die Feststellung eines Mangelzustandes, eines Defizits. Mit welchen Begriffen man den Zustand auch immer beschreibt, der zum Einsatz von Hilfeaktivitäten führt, letztlich bleibt ein Defizit festzustellen. Die Defizitperspektive ist der Sozialen Arbeit inhärent; sie ist für Soziale Arbeit konstitutiv, weil Hilfebedürftigkeit an die Feststellung gebunden ist, dass ›etwas fehlt‹ (Brumlik/Keckeisen 1976/2000). Nur dann, wenn Mangelsituationen definiert werden, besteht eine Legitimation für den Einsatz von Hilfen. In der Erziehungshilfe bildet eine Mangelsituation die rechtliche Voraussetzung für Hilfe-Aktivitäten. Auch Menschen, die Hilfe benötigen, können nur dann Bereitschaft zu einer für einen Erfolg konstitutiven Mitwirkung entwickeln, wenn sie in ihrer Selbst- und Situationsdefinition davon ausgehen, dass ihnen ›etwas fehlt‹, was zur ›Normalität‹ gehört. Ohne dass die Menschen, einen Mangelzustand (Not, Problem, Leiden o. Ä.) empfinden und/oder eine – wenn auch diffuse – Vorstellung darüber haben, wie es besser sein sollte oder könnte, wird sozialpädagogische Hilfe kaum zustande kommen. Ressourcenorientierung kann dann zu einem methodischen Problem für sozialpädagogisches Handeln werden, wenn – bei aller notwendigen Ausrichtung an den Potenzialen und Stärken der Adressaten und Adressatinnen – die Wahrnehmung von Mangelzuständen verdrängt wird oder viele Defizite und Probleme durch sprachliche Veränderungen verharmlost werden (z. B. in der Umformung von »abweichendem Verhalten« in »Verhaltensoriginalität« oder von »mangelnder Konzentrationsfähigkeit« in »große Spontanität«).
Als Fragen an konzeptionelles und praktisches Handeln in der Jugendhilfe ergeben sich aus der Sicht des Empowerment:
• Welche Impulse brauchen Kinder, Jugendliche und Familien durch die Jugendhilfe, um ihr Leben (wieder) selbstbestimmt steuern zu können?
• Welche Aktivitäten der Jugendhilfe befördern und welche behindern ein selbstbestimmtes Leben?
• Wie kann sich Jugendhilfe bei einem Hilfebedarf von Familien-(Mitgliedern) schnell wieder überflüssig machen (Hilfe zur Selbsthilfe)?
• Wo gerät Empowerment durch objektive Restriktionen in der Lebenslage von jungen Menschen und ihren Familien an seine Grenzen? Wie ist dann mit solchen Grenzen umzugehen?
• Wie kann der Blick auf Potenziale und Ressourcen der Adressaten und Adressatinnen und ihres sozialen Umfelds so geschärft und aufrechterhalten werden, dass dabei die realen Probleme, Mangel- und Notsituationen, Defizite nicht an den Rand gedrängt werden?
Partizipation/Ermöglichung von Teilhabe
Soziale Arbeit – und so auch die Kinder- und Jugendhilfe – ist auf die Koproduktion mit den Adressaten und Adressatinnen unausweichlich angewiesen. Aushandlung von Leistungen mit ihnen ist daher der zentrale Handlungsmodus der Jugendhilfe. Das SGB VIII fordert, dass Kinder und Jugendliche »entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen« sind (§ 8 Abs. 1). Ebenfalls sind »die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen [zu] berücksichtigen, Benachteiligungen ab[zu]bauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen [zu] fördern« (§ 9 Nr. 3 SGB VIII). Auch bezogen auf die einzelnen Handlungsfelder spiegelt sich der Partizipationsanspruch im SGB VIII wieder, in dem alle Leistungssegmente mit Aushandlungsaspekten gekoppelt sind. Dies reicht von der Generalnorm des »Wunsch- und Wahlrechts« nach § 5 SGB VIII über die Jugendarbeit (»an den Interessen der jungen Menschen anknüpfend«, § 11 SGB VIII), die Hilfen zur Erziehung (»Mitwirkung und Hilfeplanung«, § 36 SGB VIII) bis hin zur Gefährdungseinschätzung im Rahmen des § 8a Abs. 1 SGB VIII und umfasst auch die fachpolitische Dimension im Rahmen der Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII).
Das intensive Hervorheben des Beteiligungsaspekts folgt der Erkenntnis, dass Veränderungen nur in dem Maße möglich sind, wie die Menschen sie auch wollen und unterstützen. Die Fachkräfte sind gleichsam nur die fördernden und begleitenden Ko-Produzenten der Hilfe. Dies impliziert eine Sicherstellung von Antrags-, Einspruchs-, und Verweigerungsrechten im Rahmen von Hilfen sowie das Ermöglichen von Mitwirkung an Planung, Gestaltung und Durchführung von Angeboten. Partizipation erfordert faire Aushandlungsverfahren zwischen den Adressaten und Adressatinnen und den Fachkräften der Jugendhilfe, wobei insbesondere dann, wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind, bewusst sein muss, dass diese Aushandlung im Rahmen einer asymmetrischen Beziehung erfolgt. Die Interaktionen sind stets von Rollenverteilungen geprägt: Wer Hilfe benötigt und wer Hilfe leisten kann, wer über die für Problemlösungen notwendigen Ressourcen und das erforderliche Handlungswissen verfügt.
Ambivalenzen werden somit auch im Leitbegriff Partizipation erkennbar. Zum einen ist mit dem Begriff der »Aushandlung« ein tendenziell egalitäres Rollenmodell assoziiert, bei dem Beteiligte mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen akzeptiert werden und in eine ›Verhandlung‹ treten; zum anderen vollzieht sich eine solche Aushandlung jedoch vor dem Hintergrund eines asymmetrischen, durch unterschiedliche Macht- und Kompetenzverteilung geprägten Interaktionsverhältnisses. Ferner liegt eine Ambivalenz darin, dass einerseits Teilhabe als Option und Anspruch der jungen Menschen und ihrer Familien zu akzeptieren und zuzugestehen ist, jedoch nicht gleichzeitig ohne weiteres von deren Kompetenz zur Teilhabe ausgegangen werden kann. Insofern wird Partizipation gleichermaßen zu einem Recht der Adressaten und Adressatinnen wie zu einem Ziel und zu einer sozialpädagogischen Aufgabe, die von den Fachkräften methodisch gestaltet und erreicht werden soll. Diese Ambivalenzen erfordern methodische Erfahrungen der Professionellen und stete Reflexion des Aushandlungsprozesses.
Fragen an konzeptionelles und praktisches Handeln in der Jugendhilfe, die sich aus dem Partizipationsanspruch ergeben, sind u. a.:
• Mit welchem Respekt begegnen die Akteure der Jugendhilfe den eigenen Lebensentwürfen von jungen Menschen und ihren Eltern?
• Wie sehr ist den Akteuren der Jugendhilfe ihre eigene relative Bedeutung im Kontext der Entwicklung junger Menschen und ihrer Rolle als bloße Koproduzenten von Veränderungen (durch Beratung, Förderung oder auch Eingriffe) bewusst?
• Wie flexibel sind die Strukturen und Handlungsprogramme der Jugendhilfe, um individuellen Wünschen und dem Willen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien Rechnung tragen zu können?
• In welcher Weise können die Fähigkeiten von Kindern, Jugendlichen, Eltern und weiteren Familienmitglieder herausgebildet und gestärkt und die Interaktionskonstellationen gestaltet werden, damit reale – und nicht nur formalisierte – Partizipationsmodalitäten und Teilhabe erreicht werden können?
Integration und Inklusion
Jugendhilfe erkennt die Gleichheit in Grundansprüchen und das Recht auf Verschiedenartigkeit an. Während in früheren Konzepten der Begriff der Integration im Vordergrund stand, ist diese Orientierung heute durch den Leitbegriff der Inklusion wenn auch noch nicht abgelöst, so doch ergänzt. Damit wird verdeutlicht, dass es nicht (nur) um die Integration (ehedem exkludierter) Personen geht, sondern dass die Lebensbedingungen einer durch Diversität geprägten Gesellschaft so gestaltet werden sollen, dass Personen und Personengruppen in ihrer Unterschiedlichkeit ihren Platz innerhalb der Gesellschaft finden und sich als elementar zugehörig empfinden können. Inklusion setzt als nicht vorwiegend am zu integrierenden Individuum an, sondern nimmt gleichermaßen die strukturellen Gegebenheiten von und in Institutionen in den Blick, die im Hinblick auf Einbezug unterschiedlicher Individuen bewertet und ggf. verändert werden müssen. Obwohl der Begriff insbesondere im Rahmen einer SGB-VIII-Reform zur Zusammenführung von Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen und sinnesbezogenen Behinderungen und Jugendhilfeleistungen verwendet wird, bezieht sich dieser normative Anspruch auf alle Menschen unabhängig von persönlichen Merkmalen (wie z. B. Geschlecht, Alter, Nationalität, Funktionsbeeinträchtigung). Nicht deren Eingliederung (Integration) ist oberste Leitlinie, sondern die Verhinderung der Ausgliederung. Das bedeutet nicht nur den Verzicht auf spezielle (ausgrenzende) Angebote für Personen mit speziellen Merkmalen, sondern erfordert deren Inklusion im Kanon der Regelangebote. Die Intention dabei: Es gibt keine verschiedenen rechtlichen Zuständigkeiten für einzelne Zielgruppen. Regelangebote haben sich den Anforderungen verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen zu stellen. Damit verlieren Sondereinrichtungen ihre Existenzberechtigung