Arbeit soll mit ihren »Wirkungen« auf beides zielen: auf gesellschaftliche und persönliche Relevanzfaktoren für Autonomiespielräume, die für ein individuelles Wohlergehen nutzbar werden.
Aus den »Grundbedingungen« zur Herausbildung von Autonomie und Wohlergehen in einer auf Gerechtigkeit ausgerichteten, ermöglichenden Gesellschaft werden verschiedene Dimensionen abgeleitet und begründet, in denen sich »Autonomie und Wohlergehen« abbilden und an denen ein wirkungsorientiertes Handeln der Sozialen Arbeit beurteilt werden sollen. In Anlehnung an die von Martha Nussbaum erarbeiteten zentralen Dimensionen haben Albus et al. (2010, 107) in ihrem evaluativen Forschungsprojekt zu Wirkungen in der Erziehungshilfe die Dimensionen folgendermaßen auf das Handlungsfeld übertragen und auf diese Weise einen Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe herzustellen versucht: Gesundheit, Wohnen und Leben, körperliche Integrität, Bildung, Fähigkeit zu Emotionen, Vernunft und Reflexion, Zugehörigkeit, Zusammenleben, Kreativität, Spiel und Erholung, Kontrolle über die eigene Umgebung. In diesen Dimensionen soll Soziale Arbeit tätig werden und »Wirkungen« entfalten: zum einen im Hinblick auf die Gestaltung gesellschaftlicher und organisationaler Zustände, die den Individuen Verwirklichungschancen eröffnen, und zum anderen im Hinblick auf die individuellen Fähigkeiten, die eine reale Wahrnehmung vorhandener oder zu gestaltender Entfaltungschancen ermöglichen sollen.
Für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert der Capability Approach somit zwei Handlungsrichtungen: zum einen die (sozial- und gesellschafts-)politische Analyse und Bewertung der Verteilung bzw. des Zugangs zu Ressourcen (z. B. zu materiellen Gütern und Rechten), zum anderen die personenbezogene Ausrichtung auf persönliche Fähigkeiten und das individuelle Relevanzsystem, mit dem »gutes Leben« individuell konnotiert wird. Jedes Kind, jede bzw. jeder Jugendliche sollte entsprechend dem Gerechtigkeitskonzept des Capability Approach die Möglichkeit haben, die Themen, die ihr bzw. ihm wichtig sind, im Leben realisieren zu können. Aus der Capability-Perspektive wird kritisch betrachtet, wie die Verwirklichungschancen ausgestaltet sind. Es handelt sich um eine Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten, Zugängen zu Infrastruktur-Angeboten, Ressourcen und Berechtigungen (Otto et al. 2010, 155). Im Mittelpunkt der Betrachtung und der Handlungsperspektiven stehen individuelle und gesellschaftlich konstituierte Teilhabechancen: Teilhabe als gesellschaftlich zugestandene Option des Zugangs zu Ressourcen sowie Teilhabe als herausgebildete individuelle Fähigkeit, persönliche Vorstellungen vom »guten Leben« zu entwickeln und die Schritte zur Umsetzung dieser Vorstellungen realisieren zu können. Kinder- und Jugendhilfe hat die objektiven und subjektiven Faktoren zur Umsetzung individueller Teilhabeoptionen (in den o. g. Dimensionen) zu analysieren und sich zielgerichtet für eine Verbreiterung der Teilhabemöglichkeiten – durch sozialpolitisches Handeln und durch Förderung bei der Herausbildung individueller Fähigkeiten zum selbstbestimmten Leben – einzusetzen, wobei entsprechend der individuellen Ausrichtung verschiedener Vorstellungen vom »guten Leben« die Stärkung der persönlichen Fähigkeiten im Mittelpunkt steht. Leitthema des Capability Approach ist die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen, verstanden als Verwirklichungschancen im Sinne einer aus ihrer Sicht »guten Lebens«.
Die Kinder- und Jugendhilfe nimmt »schwierige Bedingungen des Aufwachsens« in den Blick, die Kindern auf verschiedenen Ebenen Teilhabe- und Verwirklichungschancen verwehren und ein Wohlergehen im Sinne eines gelingenden Aufwachsens be- oder verhindern. Die Analyse und die daraus abgeleiteten Handlungsorientierungen in der Kinder- und Jugendhilfe sollen sich auf vier Ebenen erstrecken:
• individuelle Problemlagen als Frage nach dem Mangel an Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;
• sozialraum- bzw. milieuspezifisch charakterisierte Rahmenbedingungen mit der Frage nach deren erweiternden oder restringierenden Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;
• pädagogische Institutionen ebenfalls mit der Frage nach den Folgen ihrer Strukturen und Prozesse für erweiternde oder restringierende Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen;
• kommunale Sozial- und Infrastrukturpolitik mit der Analyse zu deren Einfluss auf die Ermöglichung von Entwicklungs- und Verwirklichungschancen junger Menschen.
Der Unterschied des Capability-Ansatzes zum Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe liegt zunächst in der Bezugnahme auf sozialphilosophische Begründungen: Während im Konzept der Lebensweltorientierung der normative Bezug zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit sehr allgemein bleibt und eher lose mit der Vorstellung vom »gelingenden Alltag« verknüpft wird, erscheint im Capability-Ansatz der Gerechtigkeitsbegriff etwas genauer dimensioniert und begründet durch einen differenzierteren Teilhabe-Begriff und durch die Dimensionen, in denen sich ein »gutes, autonom geführtes Leben« zeigt und bewertet werden kann. Insbesondere für die Debatten um »Wirkungen« in der Kinder- und Jugendhilfe stellt der Capability-Ansatz verschiedene Dimensionen zur Verfügung, die Effektivität in der Kinder- und Jugendhilfe über die jeweils individuellen Hilfeziele hinaus vergleichend analysierbar machen können (Albus et al. 2010). Somit erscheinen weitere Unterschiede zum Konzept der Lebensweltorientierung in der Dimensionierung für »Autonomie und Wohlergehen«, im Versuch der Konkretisierung dieser Dimensionen anhand von Indikatoren (Albus et al. 2010) sowie in der o. g. Differenzierung in vier Analyse- und Handlungsebenen.
Andererseits sind aber auch viele Anknüpfungspunkte zwischen den Konzepten der Offensiven Jugendhilfe, der Lebensweltorientierung und des Capability zu registrieren. Dies ist erkennbar in den sozial- und gesellschaftspolitischen Bezugnahmen, in Vorstellungen zu Autonomie und Emanzipation, in normativen Gerechtigkeitsvorstellungen, in ähnlichen Vorstellungen zu Zielrichtungen methodischen Handelns (»Selbstbefähigung« von Adressaten und Adressatinnen, Partizipation und Teilhabe etc.). Manches erscheint inhaltlich ähnlich, jedoch in verschiedenartige Begriffskontexte eingeordnet. Mit den verschiedenen Begrifflichkeiten mag die Aufmerksamkeit jeweils etwas anders ausgerichtet werden, und es mögen andere Begründungskontexte angesprochen sein, jedoch ergeben sich vielfach für praktische Handlungsorientierungen ähnliche Perspektiven. Ob der Capability-Ansatz, der erst später (seit ca. 2005) in die Kinder- und Jugendhilfe eingebracht und publiziert wurde, in den Konzeptdebatten ein längerfristig relevanter Faktor sein wird, ist noch nicht absehbar und bleibt abzuwarten. Seine Anknüpfungsoption an andere Konzepte und Leitbegriffe in der Kinder- und Jugendhilfe kann einerseits als eine Option für eine Eingliederung in Konzeptdebatten gewertet werden, andererseits aber auch als Begrenzung, weil sich die Frage nach dem Zusatz-Nutzen im Vergleich zu anderen Konzepten und Leitbegriffen stellt.
2.2.3 Konzeptionelle Leitbegriffe heute
In den hier skizzierten »theoretischen Orientierungen« sind Begriffe geprägt worden, die in den Konzeptionsdebatten der Kinder- und Jugendhilfe Bedeutung erlangt haben, jedoch eher losgelöst von diesen »theoretischen Orientierungen«. Solche Begriffe haben eine hohe legitimatorische Bedeutung und prägen die fachlich-normative Basis der Kinder- und Jugendhilfe, auch ohne dass sie jeweils mit umfassenderen theoretischen Orientierungen verknüpft werden. Sie haben sich gleichsam verselbständigt und sind zu Leitbegriffen mit normativer Ausstrahlung geworden, jedoch in den Konzeptionsdebatten nur noch lose angekoppelt an umfassendere theoretische Orientierungen. Einige Leitbegriffe haben einen engeren Bezug zu theoretischen Orientierungen (z. B. die Nähe von Partizipation/Teilhabe und Selbstbefähigung/Empowerment sowohl zur »Lebensweltorientierung« als auch zum Capability-Ansatz), bei anderen Leitbegriffen ist der Bezug weniger deutlich, sondern eher assoziativ herstellbar (z. B. beim Begriff »Prävention«).
Die Leitbegriffe markieren normative Zielsetzungen als Grundlage für sozialpädagogisches Handeln und werden damit in den Konzeptdiskussionen zu Orientierungsmarken für eine gute Kinder- und Jugendhilfe. Die Berechtigung oder Gültigkeit dieser Leitbegriffe wird nur selten angezweifelt; sie lassen sich in fachlicher und normativer Hinsicht als impliziter Konsens der Diskussionen in der Kinder- und Jugendhilfe betrachten. Diskurse drehen sich daher nicht um ihre Berechtigung, sondern zumeist eher um die Frage, ob und wie sie umzusetzen sind und wie sehr verschiedene Arbeitsansätze ihnen in Theorie und Praxis gerecht werden. In ihnen werden sowohl fachliche Erwartungen an die Kinder- und Jugendhilfe formuliert und Legitimationsmuster geprägt (das »Was« und »Warum« der Kinder- und Jugendhilfe) als auch Anforderungen an das methodische