Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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sehr allgemeine, relativ bedeutungsoffene – Leitkategorie »soziale Gerechtigkeit« (nur ansatzweise genauer gefasst mit dem Begriff »Zugangsgerechtigkeit« als Zugang zu Ressourcen der Lebensgestaltung; Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005, 247 ff.) und damit in Verbindung gesetzt Vorstellung von einem »gelingenden Alltag« mitsamt der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die an einem Gelingen hindern oder es zu fördern vermögen. Auch das Einbeziehen der »Lebenslage« – als objektive Dimension der Lebenswelt (Kraus 2006; von Thiersch [2016a, 256] bildhaft als »Hinterbühne« zur alltäglichen Lebenswelt bezeichnet, die er als »Vorderbühne« kennzeichnet) – markiert den Stellenwert gesellschaftlicher (und politischer) Verhältnisse innerhalb des Konzepts der Lebensweltorientierung. Jedoch im Zentrum der Betrachtungen stehen die konkreten Lebensbedingungen der jungen Menschen (»Lebenswelt«) und weniger die politischen Konstellationen, auf die – neben der konkreten Hilfe zur »Emanzipation« und »Autonomie« – die Kinder- und Jugendhilfe Einfluss auszuüben bestrebt sein sollte.

      Das Konzept der Lebensweltorientierung, so wie es in den 1980er und 1990er Jahr in der fachpolitischen Debatte diskutiert sowie in den 8. Jugendbericht Einzug gehalten und die Formulierung des SGB VIII beeinflusst hat, kann im Vergleich zur Offensiven Jugendhilfe als sozialpolitisch eher verhalten beschrieben werden. Statt einer politisch markanten Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe tritt das Individuum in seinen konkreten sozialen Bezügen – und weniger als eingebunden in und geprägt durch politische Verhältnisse – in den Vordergrund. Es geht, salopp formuliert, nicht mehr so sehr um die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Individuen, sondern eher um die Gestaltung individueller Lebensräume durch die Gesellschaft.

      Ein wichtiges Element der lebensweltorientierten Hilfen sind die den direkt helfenden Interventionen vorgelagerten »präventiv-feldorientierte[n] Ansätze« (BMJFFG 1990, 23). Die präventiven Hilfen basieren auf der Idee, dass die Probleme der Adressaten und Adressatinnen nicht plötzlich entstehen, sondern sich stufenweise im Lauf einer Biografie entwickeln. Dem soll in der lebensweltorientierten Hilfe entsprochen werden, indem sie in schwierigen Situationen frühzeitig entlasten und Hilfestellung bieten, damit diese erst gar nicht eskalieren (ebd., 85).

      Für die Kinder- und Jugendhilfe wurden im 8. Jugendbericht (ebd., 85 ff.) – angelehnt an Konzeptvorstellungen der »Alltags- und Lebensweltorientierung« – einige »Handlungsmaximen« formuliert, die als fachliche Orientierungen für die Strukturierung der Kinder- und Jugendhilfe dienen sollten und bis heute immer wieder als fachliche Leitkategorien zitiert und diskutiert werden.

      • Prävention in dem Verständnis, nicht mehr nur auf Notzustände zu reagieren und Jugendhilfe primär auf Eingriffstatbestände zuzuschneiden, sondern »vorbeugend« tätig zu werden in zweifacher Hinsicht: zum einen »feldorientierte Hilfen« zu gestalten, in denen Personen frühzeitig entlastet und ihnen de-eskalierende Hilfen geboten werden, sowie zum anderen mit sozial- und kommunalpolitischen Aktivitäten gesellschaftlich positive Lebensverhältnisse für junge Menschen und Familien zu schaffen.

      • Dezentralisierung/Regionalisierung als Grundanspruch einer Jugendhilfe, die ihre Angebote in der Lebenswelt der Familien bereitstellt, Brüche verhindert und eine Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe in erreichbarer Nähe des Lebensortes selbstverständlich ermöglicht.

      • Alltagsorientierung setzt die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeit und der an den Lebenslagen der Menschen orientierten Gestaltung der Jugendhilfeleistungen voraus. Menschen sollen in den Kontexten ihres Alltagslebens wahrgenommen werden und diese werden zur Richtschnur des Handelns. Nicht segmentierte, ausgrenzende Unterstützungsangebote, sondern eine in der Welt der Menschen verfügbare, die sozialen Ressourcen berücksichtigende Infrastruktur der Jugendhilfe soll die Praxis bestimmen.

      • Integration – Normalisierung fordert eine konsequente Stärkung der Lebenszusammenhänge und die Akzeptanz eigensinniger Lebensführung. Damit einher geht immer die Aushandlung über die Frage, was Normalität ist und wie die Nutzer und Nutzerinnen von Jugendhilfeleistungen diese definieren. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, Anschlussfähigkeit an diese Normalität herzustellen.

      • Partizipation ist folgerichtig notwendiger Bestandteil, weil nur mit diesem Prinzip eine partnerschaftliche Kooperation zwischen den Nutzern und Nutzerinnen sowie den Fachkräften der Jugendhilfe gesichert werden kann. Ziel sind nicht aufgesetzte Angebote, sondern mit den Nutzern und Nutzerinnen sich entwickelnde Formen von Unterstützungsleistungen, die primär diesen bei der Bewältigung von Lebens- und Erziehungsaufgaben helfen und gleichzeitig den Ausgleich mit den gesellschaftlichen Erwartungen herstellen.

      Das verstärkte Einbeziehen der Lebensbedingungen eines Menschen (Lebenslage) ermöglicht es, dessen subjektive Wirklichkeit (Lebenswelt) besser zu verstehen; subjektive und objektive Dimensionen der Lebenswelt werden stärker analytisch verschränkt. Gleichwohl bleibt im Konzept die Lebenswelt der Schlüssel für die Herstellung einer gelingenden Lebensführung. Das bedeutet für die Kinder- und Jugendhilfe zwar, dass sie differenzierte Betrachtungen zur Bedeutung von (objektiv analysierter) Lebenslage und (subjektiver) Lebenswelt einbeziehen kann. Entscheidungen zur Hilfe, Förderung und Unterstützung lassen sich jedoch nicht für, sondern nur mit den Adressaten und Adressatinnen treffen. Letztere bleiben immer Experten und Expertinnen in eigener Sache mit der Konsequenz, dass die Erkundung und Berücksichtigung von deren Sichtweisen zu einer elementaren Anforderung an die Kinder- und Jugendhilfe werden (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006). Damit einher geht das Bemühen um eine Individualisierung der Hilfen: Hilfe soll individuell am und mit dem Menschen gemäß seiner persönlichen Lebenswelt geleistet werden, damit dieser seine Handlungsfähigkeit im Sinne eines gelingenden, in gesellschaftlicher Integration eingebetteten Alltags sichern bzw. wiederherstellen kann.

      Das Konzept des Capability Approach (Befähigungsansatz)

      Das Konzept des Capability Approach ist vom Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen und der Sozialphilosophin Martha Nussbaum entwickelt worden. Er fußt auf gerechtigkeitstheoretischen, sozialphilosophischen Erwägungen (Böllert et al. 2018). Er weist insofern eine Nähe zu Konzeptvorstellungen in der Sozialen Arbeit auf, als die Profession »Soziale Arbeit«, die nicht nur in gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen (Normalisierung, Eingliederung, Defizitkompensation etc.) aufgehen will, sondern darüber hinaus eine eigene gesellschaftstheoretisch begründete und sozialethisch legitimierbare Position sucht und proklamiert, im Capability-Ansatz Anknüpfungspunkte erblicken kann. Nach diesem Konzept hat Kinder- und Jugendhilfe – als Teil der Sozialen Arbeit insgesamt – die Aufgabe, »jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden« (Nussbaum, zit. nach Ziegler/Schrödter/Oelkers 2010, 304). Das »gute Leben« verwirklicht sich in den Chancen zu »Autonomie und Wohlergehen«, das in unterschiedlichen Dimensionen konkretisiert und gemessen werden kann. Die Ausrichtung an den Chancen für Autonomie und Wohlergehen mit den konkretisierenden Dimensionen erlaubt zum einen die kritische Frage, ob und wie Grundbedingungen in der Gesellschaft existieren und herausgebildet werden, die das Entstehen von Gerechtigkeit und Entfaltung ermöglichen. Zum anderen geht es um die Bewertung von Verwirklichungsmöglichkeiten der Individuen, also um die realen Möglichkeiten, ihre jeweils individuellen Vorstellungen von Autonomie und Wohlergehen zu gestalten. Da das, was »gutes Leben« ausmacht, an individuelle Vorstellungen von Wohlergehen geknüpft und auf Autonomiespielräume ausgerichtet ist, soll sich daraus keine paternalistische Perspektive ergeben im Sinne von außen definierter, allgemeinverbindlicher Konzepte und Maßstäbe für »gutes Leben«, die den Individuen übergestülpt werden. Vielmehr zielt diese Variante der Gerechtigkeitsethik auf eine Stärkung der Individuen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ihre eigenen Vorstellungen von Autonomie und Wohlergehen realisieren zu können. (vgl. Otto/Ziegler 2008; Ziegler/Schrödter/Oelkers 2010; Ziegler 2018)

      »Capabilities« sind Verwirklichungs- oder Entfaltungschancen für das Individuum, wobei solche Verwirklichungschancen sowohl eine gesellschaftliche Dimension aufweisen – als gesellschaftlich zur Verfügung gestellte reale Entfaltungsmöglichkeiten (gesellschaftliche Bedingungen) – als auch in einer personenbezogenen Dimension erkennbar werden – als