Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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eigenes Aufgabenfeld zu definieren. Eine solche abgeschottete, ›versäulte‹ Sichtweise liefe der Intention und dem Grundverständnis der Jugendhilfe zuwider. Allerdings sind die inhaltlichen Herausforderungen in den verschiedenen Feldern trotz ihres gemeinsamen sozialpädagogischen Begründungsrahmens so unterschiedlich, dass es unabdingbar ist, arbeitsfeldspezifische Kompetenzen für die je spezifischen Handlungsbereiche zu entwickeln (

Kap. 5).

      So ist klar, dass erhebliche Unterschiede allein in den verschiedenen Förderbereichen der Förderung in Tageseinrichtungen und der Kinder- und Jugendarbeit existieren, die aufgrund des unterschiedlichen Alters und der unterschiedlichen Entwicklungsstufen und Lebensbewältigungsaufgaben einer je spezifischen Kompetenz der Fachkräfte bedürfen. Die hier schon sehr divergierenden Anforderungen unterscheiden sich wiederum gravierend von der Anforderung, bei zugespitzten Problemlagen Zugänge zu den betroffenen Familien zu erlangen, Hilfebedarfe zu erkennen und angemessene Hilfestrategien zu deren Bearbeitung zu entwickeln und umzusetzen (Hilfen zur Erziehung). Und schließlich ist auch ein professioneller Umgang mit hoheitlichen Schutzaufgaben zur Abwendung von Kindeswohlgefährdung, ggf. auch gegen den Willen von Eltern, mit ganz spezifischen Kompetenzerwartungen verbunden. Jedes Handlungsfeld definiert einen eigenen Korridor für legitime Erwartungen und begründete Handlungsstrategien. Die Fachkräfte haben bei allen Spezifika der Handlungsfelder, in denen sie tätig sind, jedoch immer deren Stellenwert im Gesamtfeld der Jugendhilfe im Auge zu behalten und Überschneidungen mit Handlungsaufträgen anderer Arbeitsbereiche in einem Gesamtverständnis von Jugendhilfe produktiv und kooperativ zu nutzen.

      2.2.1 Zur Bedeutung konzeptioneller Orientierungen für professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe

      In Kapitel 2.1 sind die Unterschiedlichkeit der Handlungsfelder in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch die Klammer einer im SGB VIII zugrunde gelegten »Einheit der Jugendhilfe« angesprochen worden. Damit ist bereits ein wesentlicher Grund dafür angedeutet, dass es nicht ausreicht, handlungsfeldspezifische Ziele und methodische Konzepte zu entwickeln und die Konzeptdiskussionen pragmatisch bei einem solchen Handlungsfeldbezug zu belassen. Die Jugendhilfe ist ein gesellschaftliches, im SGB VIII rechtlich basiertes umfassendes Handlungsfeld, das zum Zweck der fachlichen Konturierung und Legitimation – innerhalb der Profession und nach außen gegenüber Politik und gesellschaftlichen Interessenträgern – den Anspruch verfolgen und verwirklichen muss, die verschiedenen Handlungsfelder im Sinne der »Einheit der Jugendhilfe« gemeinsam zu gestalten und zu entwickeln. Es sollten stetig konzeptionelle Standortbestimmungen – einerseits im Sinne einer Selbstvergewisserung und andererseits im Sinne der immer wieder notwendigen Herstellung einer Übereinstimmung mit gesellschaftlichen (Norm-)Erwartungen – vorgenommen und deren Rolle im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen immer wieder überdacht und neu justiert werden.

      Debatten zu handlungsfeldübergreifenden konzeptionellen Entwicklungen sind aus fünf Gründen erforderlich. Erstens schafft sich die Kinder- und Jugendhilfe eine Klammer, die die disparaten Arbeitsfelder verbindet, die kooperative Bezugnahme der einzelnen Arbeitsfelder zueinander fördert und damit insgesamt die gesellschaftliche Wahrnehmung der Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe stärkt. Dadurch wird zweitens die Basis für eine möglichst wirkungsvolle Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche, aber auch für die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe verbessert. Drittens erfolgt eine explizite Debatte zum Selbstverständnis der Profession, und es werden – daraus folgend – Orientierungen formuliert für eine angemessene Herausbildung methodischen Handelns; dies schließt eine für die Profession äußerst wichtige Orientierung bei der Festlegung von Maßstäben (Qualitätskriterien) für eine »gute professionelle Praxis« ein. Damit werden viertens die normativen Orientierungen (»Grundwerte«) transparent und diskutierbar, von denen die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe sich leiten lassen (sollten) und die Orientierungen vermitteln für das methodische Handeln, für die Bewertung des Handelns, und dies sowohl nach innen (innerhalb der Profession mit ihren Einrichtungen und Diensten) als auch nach außen (gegenüber politischen und gesellschaftlichen Interessenträgern, gegenüber anderen Organisationen, in Kooperationsbezügen). Und fünftens kann eine nachvollziehbare Wertebasis davor schützen, dass sich methodisches Vorgehen gegenüber inhaltlichen Absichten verselbständigt; eine normative Fundierung vermag es, dem professionellen Handeln – im Dreischritt von Diagnose/Analyse der Ausgangssituation, Inferenz/Schlussfolgerung und Behandlung/Handeln – einen fachlichen Sinngehalt verleihen und bietet eine legitimierende Rahmung für das jeweils gewählte methodische Vorgehen. Debatten zu den konzeptionellen Grundlinien der Kinder- und Jugendhilfe finden nicht zuletzt ihren Niederschlag in den Haltungen und normativen Vorstellungen, mit denen Fachkräfte an junge Menschen und ihre Familien herangehen und mit denen sie ihre Leistungen und ihr Vorgehen gestalten.

      Fünf Gründe, warum eine handlungsfeldübergreifende Konzeption der Kinder- und Jugendhilfe wichtig ist

      • Sie verbindet die unterschiedlichen Arbeitsfelder miteinander, erleichtert Zusammenarbeit und macht die Kinder- und Jugendhilfe nach außen als Einheit und Ganzes sichtbar.

      • Sie erleichtert die Vertretung der Interessen von Kindern, Jugendlichen, Sorgeberechtigten und Einrichtungen.

      • Sie fördert das berufliche Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihr methodisches Handeln und die Entwicklung von Maßstäben für eine ›gute‹ Kinder- und Jugendhilfe.

      • Die normativen Grundlagen (»Grundwerte«) werden sicht- und reflektierbar, nach innen und nach außen.

      • Methodisches Handeln verselbständigt sich nicht, sondern wird eingebunden in eine normative Werte- und Zielbestimmung.

      Individuelle Haltungen von Fachkräften, die in jedem professionellen Handeln wirksam werden, werden von konzeptionellen Leitorientierungen der Profession mitgeprägt; die konzeptionellen Leitorientierungen bilden einen Spiegel, vor dem sich professionelle Akteure methodisch und in ihrer normativen Haltung legitimieren sollen. Eine ständige fachliche und fachpolitische Selbstvergewisserung und die damit oft verbundenen kontroversen Fachdebatten über konzeptionelle Eckpunkte sind – nicht zuletzt angesichts kontinuierlicher gesellschaftlicher Veränderungen – ein ständiger Begleiter der Jugendhilfe in allen historischen Phasen. Professionelles Handeln bedarf der Fundierung und Rahmung durch eine explizite Debatte zu Auftrag, Zielen, Methoden der Profession, was Debatten zur normativen Grundlage des Handelns (Menschenbild, werteorientierte Zulässigkeit von Handlungsweisen, Umgang mit Werteambivalenzen und Wertkonflikten etc.) einschließt – als Bestandteil einer für die Kinder- und Jugendhilfe maßgeblichen Form der »reflexiven Professionalität« (Dewe/Otto 2010).

      Konzeptionelle Leitorientierungen in der Kinder- und Jugendhilfe werden in unterschiedlichen Modalitäten und Kontexten präsentiert: in eher umfassenderen theoretischen Konzepten oder in Form von konzeptionellen Leitbegriffen, die nicht spezifisch an theoretische Konzepte gebunden sind, sondern eher unabhängig von solchen theoretischen Konzepten erscheinen bzw. an verschiedene theoretische Konzepte ankoppelbar sind. In der nachfolgenden Darstellung sind einige ›theoretische‹ Konzepte und einige konzeptionelle Leitbegriffe ausgewählt, die aus Sicht der Autoren eine Bedeutung für aktuelle Konzeptdiskussionen in der Kinder- und Jugendhilfe haben und mit denen sich daher Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe auseinandersetzen sollten. Die Beschränkung auf drei umfassendere Konzepte ist Ausdruck der Wahrnehmung, dass in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe die »umfassenderen konzeptionellen Erzählungen« (von Sandermann/Neumann [2018, 212 ff.] als »Grand Theories« charakterisiert) relativ selten argumentativ genutzt und verarbeitet werden. Stattdessen erhalten Leitbegriffe wie »Prävention«, »Ressourcenorientierung«, »Sozialraumorientierung« etc. eine größere Bedeutung, wenn es darum geht, Praxiskonzepte zu entwerfen und zu begründen und für Praxiskonzepte eine Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit und in den sozialpolitischen Kontexten zu finden. Doch auch bei den konzeptionellen Leitbegriffen beschränken wir uns auf einige Begriffe, die sich nach unserer