Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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konzeptionellen Leitbegriffe (

Abb. 3) erscheinen auf den ersten Blick inhaltlich plausibel und finden bei Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe eine breite Zustimmung. In einer genaueren Betrachtung sind in ihnen jedoch Spannungsfelder und Widersprüche enthalten, die auf die Notwendigkeit eines reflektierenden Umgangs mit ihnen verweisen. Jeder Leitbegriff transportiert, wenn er in die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ›übersetzt‹ wird, Ambivalenzen, bei denen unerwünschte Nebenfolgen oder auch paradoxe Anforderungen sichtbar werden. Kinder- und Jugendhilfe bewegt sich über alle Aufgabenfelder hinweg (
Kap. 5) in Spannungsfeldern und hat es mit zentralen Antinomien (Hilfe-Kontrolle, Nähe-Distanz, Einzelfall-Sozialraum etc.) zu tun, die auch in konzeptionellen Leitbegriffen ihren Niederschlag finden. Die Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe oszilliert je nach Aufgabenfeld und konkret zu bearbeitender Aufgabenstellung immer zwischen den Polen zueinander in Widerspruch stehender Anforderungen und Erwartungen. Professionelles sozialpädagogisches Handeln hat angesichts dieser Spannungsfelder für jede einzelne Aufgabe und in jedem Einzelfall immer wieder eine neue Balance zu finden und zu wahren, um ihrem Auftrag für die je spezifische Situation und für die je spezifisch betroffenen Menschen gerecht zu werden.

      Prävention

      Ein zentraler Leitbegriff, an dem sich die Kinder- und Jugendhilfe seit den 1980er Jahren ausrichtet, ist »Prävention«. Er hielt insbesondere durch den 8. Jugendbericht Einzug in die Jugendhilfediskussion. Jugendhilfe will nicht nur Nothilfe sein, sondern will durch geeignete Maßnahmen dazu beitragen, dass solche Notsituationen möglichst nicht entstehen. Der Begriff der Prävention spielt daher in vielen Handlungskonzepten als Anspruch der primären oder sekundären Prävention eine zentrale Rolle. Prävention hat sowohl eine sozialpolitische als auch eine methodische Komponente. In sozialpolitischer und vorausschauend planerischer Hinsicht geht es um die Gestaltung von Lebensbedingungen und sozialen Räumen, in denen sich Menschen möglichst optimal gemäß ihren Bedürfnissen und Lebensverhältnissen entwickeln können. Im methodischen Anspruch des »vorbeugenden Handelns« bezeichnet der Begriff der Prävention eine Intervention in eine Situation oder einen Geschehensablauf, durch den eine antizipierte unerwünschte Entwicklung in Familien oder bei Kindern und Jugendlichen in der weiteren Zukunft vermieden werden soll. Insofern basiert die Begründung von präventiven Maßnahmen auf einer wie auch immer gewonnenen Risikozuschreibung, wonach bei Untätigkeit der verantwortlichen Akteure (hier der Kinder- und Jugendhilfe) Fehlentwicklungen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eintreten könnten.

      Der Begriff Prävention ist gekennzeichnet durch eine starke normative Orientierung, da er darauf basiert, dass spezifische Situationen als negativ oder unerwünscht definiert werden müssen, um so präventive Interventionen zu rechtfertigen. Prävention ist damit gleichermaßen an soziale Kontrolle gebunden, da antizipierte negative Entwicklungen frühzeitig erkannt werden sollen; dies impliziert eine frühzeitige Beobachtung im Hinblick auf vermeintliche Risiko-Optionen. Diese Kontrolle ist insofern vorverlagert, als gerade spätere, noch nicht eingetretene Defizite und Schäden vermieden werden sollen. Das hat das Paradoxon zur Folge, dass je früher Prävention einsetzt, umso breiter ihr Kontrollblick sein muss und umso unspezifischer die daraus abgeleiteten Interventionen sein werden, da die Annahme einer späteren defizitären Versorgung und Erziehung nur als Hypothese über zukünftige Entwicklungen formuliert werden kann.

      Der Präventionsbegriff in der Kinder- und Jugendhilfe ist mit markanten Ambivalenzen durchzogen. Sozialpolitisch ist die Gestaltung förderlicher Lebensbedingungen, in denen soziale Probleme in einem geringeren Ausmaß entstehen, selbstverständlich plausibel. Jedoch wirkt der Präventionsbegriff hier unspezifisch und willkürlich: Damit erscheint jedes sozialpolitische Handeln ›irgendwie‹ präventiv, und der Begriff Prävention wird zu einer fast beliebig verwendbaren Legitimationsformel mit geringem inhaltlichen Aussagewert. In methodischer Hinsicht erscheint es einerseits ebenfalls plausibel, frühzeitig Hilfen einzuleiten, bevor ansatzweise sichtbare Problemkonstellationen sich verfestigt haben. Andererseits folgt der präventive Blick immer der »Logik des Verdachts« und des Risikos (Holthusen et al. 2011) und ist dementsprechend verbunden mit einer Ausweitung sozialer Kontrolle auf das räumliche und zeitliche Vorfeld möglicher Faktoren zum Entstehen von Risiken und Problemen. Aus diesen Ambivalenzen kann eine Kinder- und Jugendhilfe, die sich über den Begriff der Prävention konzeptionell ausrichten und legitimieren will, nicht entfliehen. Angesichts der Ambivalenzen setzt sich zunehmend eine Haltung durch, dass sich Kinder- und Jugendhilfe nicht auf Prävention allein fokussieren darf, sondern sich stärker auf das Ziel des »gelingenden Lebens« richten muss. Damit wird Prävention als vorrangiges Ziel der Jugendhilfe nicht obsolet, ist aber immer auch zu ergänzen durch eine proaktive Sicht auf Ermöglichung von Teilhabe.

      Aus dem Leitbegriff der Prävention lassen sich folgende Fragen an konzeptionelles und praktisches Handeln in der Jugendhilfe ableiten:

      • Gelten die Aktivitäten der Jugendhilfe lediglich der Verhinderung (weiterer) negativer Entwicklungen (aus welcher Sicht sind sie negativ?) oder sind sie auch darauf gerichtet, positive Wünsche und Vorstellungen vom Leben in Teilhabe realisieren zu können?

      • Welche Risiken können und sollen Gegenstand von Präventionsmaßnahmen sein?

      • Haben die Akteure in der Jugendhilfe und Familienmitglieder selbst eine Vorstellung von gelingendem Leben?

      Selbstbefähigung/Empowerment/Ressourcenorientierung

      Mit Empowerment sind sowohl eine Haltung als auch Handlungsstrategien gemeint, die die Autonomie der Menschen fördern und deren Maß an Selbstbestimmung erhöhen sollen. Mit dem Begriff des Empowerments wird zum einen der Prozess beschrieben, in dem Menschen die (Deutungs-)Hoheit über ihr Leben erhalten oder (rück-)gewinnen; zum anderen charakterisiert der Begriff das auf die Selbstbemächtigung der Menschen ausgerichtete professionelle Handeln der in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Fachkräfte. Das Konzept des Empowerment geht davon aus, dass es den Menschen obliegt und zusteht, ihr Leben entsprechend ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es wendet sich ab von defizitorientierten Sichtweisen auf junge Menschen und Familien und konzentriert sich darauf, diese bei der Entwicklung und Realisierung positiver Lebensentwürfe zu unterstützen. In diesem Sinne ist Empowerment der Versuch, Menschen dazu zu ermutigen und sie in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Lösungswege zu erschließen und für sich umzusetzen.

      Damit löst sich die Kinder- und Jugendhilfe von der Gefahr der »fürsorglichen Belagerung«, die bei Adressaten und Adressatinnen eine »gelernte Hilflosigkeit« auslösen kann. Gleichzeitig braucht sie aber – um nicht in ein neoliberales »jeder ist seines eigenen Glückes Schmied« zu verfallen – einen klaren Blick auf objektive Restriktionen (Mangel an persönlichen, sozialen und materiellen Ressourcen), die sich dem Ziel der Selbstbestimmung in den Weg stellen (Herriger 2014). Empowerment ist insofern untrennbar mit dem Begriff der Ressourcenorientierung verbunden. Um Selbstbemächtigung zu ermöglichen, muss ein erster Blick der Fachkräfte auf die individuell, materiell, sozial verfügbaren Ressourcen gerichtet sein. Auch der Begriff des Empowerments bewegt sich in einem spezifischen Spannungsfeld. Es geht um die Frage nach der jeweils richtigen Balance zwischen der Gestaltung professioneller Angebote und Hilfen und der Aktivierung von Menschen, ihre Anliegen in solidarischer Selbsthilfe zu thematisieren und zu bearbeiten. Hier stellt sich die Kernfrage, inwieweit Strategien des Empowerment geeignet sind, einerseits Hilfe zur Selbsthilfe zu initiieren und andererseits zu erkennen, wo professionelle Unterstützung Selbsthilfepotenziale untergräbt.

      Auch in der Leitvokabel »Ressourcenorientierung« ist eine elementare Ambivalenz enthalten: zwischen notwendiger methodischer Ausrichtung an den Potenzialen und Stärken der Adressaten und Adressatinnen einerseits sowie der mangelnden Beachtung und Würdigung der vorhandenen