kurz vor Beginn der Rush-Hour in die Innenstadt. Chloe studierte die spärlichen Informationen, die sie hatten. Lediglich ein paar frisch ausgedruckte Seiten in einer Mappe, die Johnson ihnen gegeben hatte. Die Adresse des letzten Opfers war ins Navi eingegeben, eine kleine Siedlung, ungefähr zwei Meilen außerhalb der Innenbezirke.
„Fine, versprechen Sie mir etwas?” fragte Rhodes, während sie auf die Adresse zufuhren.
„Ich gebe keine Versprechen” antwortete Chloe. Sie hatte es als Witz gemeint, aber es klang eher harsch. „Aber ich kann versuchen, mein Wort nicht zu brechen.”
„Okay, das muss reichen. Bitte seien Sie ehrlich mit mir und sagen Sie mir, wenn der persönliche Scheiß Sie beeinträchtigt während wir an diesem Fall arbeiten. Nur einmal möchte ich, dass wir einfach nur an einem Tatort ankommen und einen Fall binnen vierundzwanzig Stunden lösen. Keine Komplikationen, keine Rückschläge.“
„Ja, dazu kann ich Ihnen mein Wort geben.”
Das Gespräch schien die Spannung im Auto gebrochen zu haben. Als sie in der Siedlung ankamen, fühlte Chloe sich fast normal. Klar, sie dachte alle paar Sekunden an Danielle, aber sie erinnerte sich auch daran, wie leichtfertig Danielle in der Vergangenheit gewesen war. Wenn man ihre Vergangenheit bedachte, dann war ihr Verschwinden eigentlich gar nicht so merkwürdig.
Stimmt, aber Dad auch?
Sie verbannte den Gedanken, als Rhodes das Auto vor einem zweistöckigen Haus, eine exakte Kopie aller anderen Häuser in der Straße, parkte. Man konnte nicht behaupten, dass es nicht traumhaft war. Es war einfach, aber prachtvoll. Die Art Haus, die man als ‘danach’ in den Renovierungsprogrammen im Fernsehen sah.
„Bereit?”, fragte Rhodes.
Chloe schluckte die sarkastische Antwort, die ihr auf der Zunge lag, herunter. Sollte Rhodes sie wegen der Danielle-Situation mit Samthandschuhen anfassen, war sie sich nicht sicher, ob sie den Fall durchziehen konnte.
„Bereit”, war alles, was sie hervorbrachte, als sie aus dem Auto in den leichten Regen stieg.
***
Der bis jetzt zuständige Kommissar war ein schlaksiger Mann namens Anderson. Er saß am Küchentisch, als Chloe und Rhodes das Haus betraten. Er sah von dem iPad, auf dem er etwas mit dem Daumen wegwischte, auf und legte es entschuldigend zur Seite als er aufstand. Chloe schielte kurz auf den Bildschirm und sah, dass er durch Beweisfotos geblättert hatte.
“Ben Anderson”, stellte er sich vor und streckte ihnen seine Hand entgegen.
„Agenten Fine und Rhodes,” erwiderte Chloe, seine Hand schüttelnd. „Haben Sie lange gewartet?”
„Nur um die zehn Minuten. Aber ich war natürlich in den letzten sechzehn Stunden drei oder vier Mal hier, um ein Gefühl für die Sache zu kriegen.”
„Waren Sie hier nach der Entdeckung der Leiche?” fragte Chloe.
„War ich. Ich war der Zweite am Tatort.”
„Wo wurde die Leiche gefunden?” fragte Rhodes.
Anderson winkte sie zum hinteren Teil des Hauses, während er das iPad aufhob. Er lief durch die Küche und öffnete eine Tür, die nach draußen führte. “Hier draußen auf der hinteren Veranda…. Obwohl, da gibt es nicht viel zu sehen.”
Sie traten auf die Veranda. Chloe konnte zuerst nichts auch nur irgendwie Interessantes entdecken. Es war eine nette Veranda mit Aussicht auf einen großen, sehr grünen Garten. Ein Grill stand in der hinteren Ecke, durch eine Hülle, mit dem Logo der Baltimore Ravens, geschützt. Die wenigen Möbel in der Mitte der Veranda waren schön, aber nichts Besonderes – wahrscheinlich von Wayfair oder Costco. Es nieselte draußen noch immer, was leichte Wasserflecken auf den Holzboden verursachte. Chloe bemerkte einen komma-förmigen Blutfleck auf den Latten – ungefähr die richtige Größe, um einen Kopf teilweise zu umzirkeln.
„Das Opfer war Bo Luntz“, sagte Anderson. „Seine Frau, Sherry, fand ihn, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Es war ihr Hochzeitstag. Sie fand ihn hier, auf dem Boden der Veranda. Sie hat für eine Weile alles irgendwie ausgeblendet. Sie hat nicht einmal die schwarze Socke, die ihm fast bis in die Kehle gestopft worden war, in seinem Mund bemerkt. Sie sagt, sie kann sich vage erinnern, sie beim ersten Anblick gesehen zu haben, aber... sie stand komplett neben sich – verständlicher Weise.“
„Das Blut“, bemerkte Chloe während sie in die Knie ging. „Es lässt vermuten, dass er nicht nur stranguliert wurde. Gab es Hinweise auf einen Kampf?“
„Nein. Nichts war umgefallen, nichts war ungewöhnlich. Das einzige Indiz ist der offensichtliche Schlag auf den Kopf, entlang der Stirn.“
Mit diesen Worten reichte er Chloe das iPad, welches er getragen hatte. Er hatte ein Bild der Leiche aufgerufen. Chloe vergrößerte das Bild von Bo Luntz‘ Stirn. Da waren eine eindeutige Delle und der Anfang eines Blutergusses zu sehen. Aufgrund der Form der Delle vermutete sie, dass sie von einem Gegenstand von vielleicht fünf oder sechs Inches Breite, mit flachem Ende, stammte.
„Der Bluterguss sieht frisch aus“ bemerkte Rhodes, die über Chloes Schulter geschielt hatte. „Wie lange nach der Entdeckung wurde die Leiche weggebracht?“
„Ungefähr eine Stunde später, würde ich sagen. Und nach Frau Luntz Aussage war das Blut noch nass, als sie die Leiche fand. Also nehmen wir an, dass er ein bis zwei Stunden vor ihrer Heimkehr ermordet wurde.“
„Keine Fingerabdrücke auf der Socke in seinem Mund?“ fragte Chloe.
„Keine. Auch drinnen keine Abdrücke. Keine Hinweise auf Einbruch .... nichts.“
Rhodes begann, die Ausdrucke von Johnson zu durchsuchen. Sie versuchte, die Papiere durch ihren Körper vor dem Regen zu schützen. „Bo Luntz, zweiundfünfzig Jahre alt, ein Kind, angestellt bei Mutual Telecom. Keine Vorstrafen. Können Sie noch etwas hinzufügen, Kommissar Anderson?”
„Nach vorläufigen Befragungen von Nachbarn und Freunden wissen wir, dass der Mann sehr beliebt war. Er war freiwilliger Feuerwehrmann, half bei Wohltätigkeitsveranstaltungen wann immer er konnte. War Assistenztrainer bei einem Amateur-Footballverein. Ich selbst habe mit fünf Leuten gesprochen und wir haben noch mindestens ein Dutzend mehr in der Akte. Der Mann war blütenweiß.” Chloe nickte, aber sie hatte diese Geschichten schon oft gehört. Die meisten Männer konnten nach außen hin blütenweiß erscheinen, aber sie wusste, dass man nach ein wenig graben, Risse in der sauberen Fassade fand. Risse, die oft zu sehr dreckigen Geheimnissen führten.
“Haben Sie eine Idee, warum ihm eine Socke in den Hals gestopft wurde? ” erkundigte sich Chloe.
„Keine Ahnung. Wir haben die Schubladen oben durchsucht in der Annahme, wir könnten das Gegenstück finden, aber kein Glück.“
„Herr Kommissar, können wir den Namen und die Nummer des zuständigen Leichenbeschauers haben?“
„Klar“, erwiderte er, während er schon die Kontakte in seinem Telefon durchblätterte.
„Und was ist mit dem ersten Opfer?“ fragte Chloe.
„Sein Name war Richard Wells. Er lebte ungefähr zwölf Meilen von hier in der kleinen Stadt Eastbrook. Eine sehr ähnliche Nachbarschaft zu dieser hier. Die Polizei in Eastbrook bearbeitet den Fall, aber ich habe einige der Details, wenn Sie sie möchten.“
„Ja, bitte.”
„Im Großen und Ganzen eine genaue Kopie der Geschehnisse hier. Wells wurde tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden, sein Kopf mehr oder weniger zerschmettert und eine schwarze Socke im Mund. Als Personen waren die beiden aber sehr unterschiedlich. Wells wurde letztes Jahr geschieden. Es gibt Gerüchte über ein Alkoholproblem. Er arbeitete als privater Unternehmer und seine wenigen Angestellten waren die einzigen, von denen wir Informationen bekommen konnten. Seine Ex-Frau ist schon wieder verlobt und lebt in Rhode Island.