Russell Blake

JET


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Kilometer zurücklag. Sie nahm an, dass das Boot, das sie verfolgte, maximal knapp unter vierzig Knoten schaffte, was zwar immer noch sehr schnell war, aber nicht schnell genug, um es mit ihrem aufzunehmen. Das zweite Patrouillenboot schien sich mit etwa sechsunddreißig Knoten fortzubewegen, also hatte es entweder einen dreckverkrusteten Rumpf, eine andere Ausstattung oder einen randvollen Tank. Wie auch immer, keines der Boote würde jetzt noch nahe genug herankommen, um eine Gefahr darzustellen. Bei ihrer gegenwärtigen Geschwindigkeit würde Maya die Küste von Venezuela in maximal zehn Minuten erreichen und die Chancen standen besser als gut, dass die Polizeiboote von Trinidad die Verfolgung in venezolanischen Gewässern abbrechen würden – niemand würde wegen eines gestohlenen Freizeitschiffchens eine internationale Krise riskieren wollen.

      Sie schaltete auf Autopilot um, und das Steuerrad erstarrte. Die Bedienung war intuitiv – Ein-Aus-Schalter mit einer Drehscheibe, um die Richtung einzustellen. Ein weiterer Blick auf das Radar zeigte, dass sich nichts zwischen ihr und Venezuela befand, also ging sie nach vorn und schoss mit ihrer Pistole das Schloss der Kombüse auf. Maya durchstöberte die Kabine für ein paar Minuten, dann kam sie mit einer unterwassertauglichen Tasche zurück.

      Zu ihrer Überraschung waren ihr die Patrouillenboote noch immer auf den Fersen. Es kam noch schlimmer: Als sie die Radarreichweite auf fünfundzwanzig Kilometer erhöhte, sah sie, dass eine riesige Masse aus südlicher Richtung vom venezolanischen Territorium aus auf sie zusteuerte. Es sah nicht so aus, als würde das Schiff sie rechtzeitig erreichen, um sie aufzuhalten, aber für ihren Geschmack war auf dem Wasser zu viel los. Falls es noch dazu ein Schiff der Marine war, konnte es mit seinen Bordkanonen aus beträchtlicher Entfernung auf sie schießen, und sie gäbe ein leichtes Ziel ab.

      Als sie im Kanal zwischen der Isla de Patos und dem venezolanischen Festland angekommen war, verringerte sie die Geschwindigkeit auf fünfzehn Knoten und leerte ihren Rucksack aus. Maya ließ ihre Waffen nur äußerst ungern zurück, aber es war keine gute Idee, eine Durchsuchung in Venezuela zu riskieren, bei der man erklären musste, warum man eine Maschinenpistole bei sich trug. Sie zog ihre Schuhe aus und steckte sie zusammen mit dem Geld, den Dokumenten und dem GPS-Gerät in die Tasche, die sie sorgfältig und dicht verschloss. Noch ein kurzer Blick auf das ferne Patrouillenboot, dann legte sie die Tasche wie einen Rucksack an und öffnete die Luke im Schiffsboden. Auf dem Deck standen festgezurrt zwei Zwanzigliterkanister mit Treibstoff für den Notfall. Sie nahm einen davon und goss den Inhalt in den Schiffsbauch. Der Gestank von blankem Benzin erfüllte das Cockpit, als sie zum Funkgerät ging. Sie nahm das Mikrofon, hielt es von ihrem Mund ein Stück weg, damit die Motorengeräusche den Klang ihrer Stimme verzerrten, und sprach eine Oktave tiefer als normal. Mit viel Glück würde sie wie ein panischer junger Mann klingen.

      »Mayday. Mayday. Mein Benzintank hat ein Leck. Er muss von einer Kugel getroffen worden sein. Oh mein Gott …«

      Sie schleuderte das Mikro auf das Deck und schaltete das Funkgerät aus. Dann zog sie die Ringe ihrer zwei Granaten ab, warf sie in den Bauch des Schiffes und tauchte vom Heck in das Fahrwasser. Die Tauchflossen und den Schnorchel, den sie im Boot gefunden hatte, hielt sie fest in ihrer unverletzten Hand.

      Nach vierzig Metern explodierte das Intrepid-Boot in einem Feuerball und erhellte die Nacht, als das restliche Benzin an Bord in die Luft flog. Maya spürte eine Hitzewelle im Gesicht. Sie zog die Flossen an, nahm den Schnorchel in den Mund und beobachtete, wie das demolierte Boot bis zur Wasserlinie abbrannte und dann in den Fluten versank.

      Ihre Hand brannte vom Salzwasser, genau wie ihre Schulter, aber damit kam sie klar, und im März lag die Wassertemperatur des Meeres bei ungefähr fünfundzwanzig Grad, was ideal war. Rasch schätzte sie grob ein, dass sie wohl gute vier Kilometer bis zur Küste schwimmen musste. Mit den Flossen und ohne Zeitdruck würde sie das jedoch locker schaffen.

      Maya steuerte auf ein schimmerndes Licht zu, das sich als kleines Fischerdorf in der Ferne erwies. Sie schwamm mit lockeren und gemäßigten Bewegungen, die Flossen waren dabei eine große Hilfe. Bis die Venezolaner oder die Patrouille aus Trinidad die Stelle erreichten, wo das Boot explodiert war, würde sie schon weit entfernt sein.

      Drei Stunden später erreichte sie einen verlassenen Strand, der ungefähr fünfhundert Meter von dem kleinen Dorf Macuro entfernt lag. Eine einsame Gestalt, die auf das Meer hinausblickte, wo in der Ferne die Suchscheinwerfer des Marineschiffes die Nacht durchbohrten. Der Mond schien heller, als sie keuchend in seinem gespenstischen Glanz dastand und das Salzwasser von ihrem Körper in den Sand tropfte. Sie betrachtete die wenigen Lichter, die in dem schlafenden Fischerdörfchen noch brannten und beschloss, bis zum Morgen zu warten, bevor sie sich dorthin begab, um entweder einen Bus zu nehmen oder einen Einheimischen mit Ruderboot zu bezahlen, um in den nächsten größeren Ort zu gelangen.

      Der warme Wind zerzauste ihr feuchtes Haar, als sie dem Horizont entgegenstarrte und sich immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen ließ, die sie beim Schwimmen schon die meiste Zeit beschäftigt hatten.

      Wie hatten die sie gefunden? Und wer waren die? Warum wollten die sie umbringen? Niemand wusste, dass sie noch am Leben war. Sie hatte ihre Spuren doch verwischt, hatte vor langer Zeit aufgehört, zu existieren, genau wie das Leben, das sie gelebt hatte.

       Nur, dass es eben nicht so war.

      Irgendwie, auf irgendeine Art, hatte sie ihre Vergangenheit eingeholt.

      Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, säuberte sie von Salz und Sand und schloss ihre Augen. Nur ein paar Auserwählte kannten ihren richtigen Namen: Maya. Alle anderen kannten nur ihre Einsatznamen, und das war ihr recht so. Vor langer Zeit hatte sich Maya in etwas Tödliches verwandelt, etwas Ehrfurchtgebietendes, und sie ließ ihre wahre Identität zurück, als sie den Codenamen Jet angenommen hatte – den Namen einer Geheimagentin von der Sorte, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Letztendlich aber hatte sie ihre Identität als Jet vor drei Jahren an einer anderen Küste zu Grabe getragen, auf der anderen Seite des Planeten, als sie fertig war mit dem Leben im Verborgenen, das sie geführt hatte, und allem anderen, was dazugehörte.

      Jet war der gegenteilige Pol ihres Wirtskörpers, Maya, und hatte niemals Verwendung für ihre Schwächen, keinen Platz für ihren Sanftmut und ihr Mitgefühl. Jet war der fleischgewordene Tod, die flinke Hand der Rache, eine tödliche Heimsuchung, der man nicht entkommen konnte. Sie war ein Geist, unantastbar, der Schnitter, eine Killermaschine, über die man ehrfürchtig und nur im Flüsterton sprach, selbst in ihren eigenen elitären Kreisen.

      Doch jetzt war Jet zurück im Reich der Lebenden, die Bestie war wieder erwacht. Wer auch immer ihren Tod wollte, hatte damit eine Urgewalt der Natur heraufbeschworen, die niemand aufhalten konnte. So sehr Maya Jet hinter sich lassen wollte, gab es nur einen Weg, um überhaupt eine Zukunft zu erleben, nämlich, zu derjenigen zu werden, die sie eigentlich für immer begraben wollte.

      Langsam öffnete Jet die Augen, als sehe sie die Welt zum ersten Mal. Die warme Brise liebkoste ihre exotische Gestalt wie ein Liebhaber. Sie atmete die süße Luft tief ein, drehte sich um und trottete über den feinen Sand zu einer Stelle, an der sie sich bis zum Morgen ausruhen konnte.

      Der neue Tag würde schon bald anbrechen.

      Dann würde es viel Arbeit geben.

      Kapitel 3

      Der frostige Moskauer Wind schickte ein Schneegestöber hinab auf die frierenden Einwohner, die sich auf dem Weg zum Abendessen die Bürgersteige entlang mühten. Der Gestank von nur mäßig gefilterten Abgasen säuerte die Luft über der Stadt, ausgehustet von heruntergekommenen Ladas aus der Sowjetzeit, die neben brandneuen Mercedes-Limousinen auf den Straßen dahin klapperten. Die Kluft zwischen Arm und Reich war nirgendwo offensichtlicher als in den verstopften Straßen dieser sozial unausgeglichenen Metropole, wo die herrschende Oberschicht im Luxus reisen konnte, während das gemeine Volk durch den Schneeregen stapfte.

      Michail Gridschenko blickte über das, was mehr oder weniger seine Stadt war. Seine kolossale Villa an der Kuznetskiybrücke war besser bewacht als der Kreml, hatte kugelsichere Fenster. Alle Häuser innerhalb des von Mauern umgebenen Grundstücks gehörten ebenfalls ihm und wurden von seinen Sicherheitsleuten bewohnt. Infrarotkameras,