Unzufriedenen.
Gridschenko atmete geräuschvoll aus – halb seufzend, halb ächzend – und ging vom Fenster zu dem antiken Tisch in der Ecke, auf dem eine Flasche Iordanov-Wodka mit drei Kristallgläsern und ein schwerer Aschenbecher standen. Nachdem er ein Softpack Marlboro Red aufgerissen hatte, schüttelte er eine Zigarette heraus und klopfte damit auf die Tischplatte. Erst betrachtete er sie eingehend, dann pustete er auf den Filter, bevor er sie in den Mund steckte – eine abergläubische Marotte aus seiner Jugendzeit; damals hatte ihm ein Freund erzählt, am Filter hafteten mikroskopisch kleine Kunststofffasern, die für die größten Gesundheitsschäden verantwortlich waren. Danach füllte er ein Glas drei Finger hoch mit Wodka, zündete die Marlboro mit einem goldenen S.-T.-Dupont-Feuerzeug an und inhalierte den Rauch tief in seine Lunge, dann blies er eine blaugraue Wolke an die hohe Decke.
Er hob das Glas an die Lippen und nippte an dem Wodka, der zu seinen Lieblingsmarken gehörte, obwohl eigentlich der Werbung nach Frauen die Zielgruppe dafür waren. Es lag wohl am Geschmack. Niemand würde es wagen, irgendeine seiner Vorlieben infrage zu stellen, daher kümmerte ihn nicht, ob er zur Zielgruppe gehörte – er kaufte ja das, was in der Flasche war.
Gridschenko hielt inne, um den Geschmack der klaren, kräftigen Flüssigkeit zu genießen, und war erfreut über das Brennen, das folgte, als der Wodka seine Kehle hinunterrann. Noch ein Zug an der Zigarette, dann machte er es sich auf der braunen ledernen Couchgarnitur gemütlich, einer Sonderanfertigung mit Unterstützung für die Lendenwirbel, denn er hatte Rückenbeschwerden. Derartiger Luxus war der Lohn für einen der einflussreichsten und mächtigsten Männer in Russland. Sein Imperium erstreckte sich über den ganzen Erdball und bestand aus einem Netzwerk von Unternehmen, von denen sich die meisten zwar in seiner Heimat befanden, einige aber in unbekannten, weit entlegenen Gebieten. Er war ein Oligarch, der auf höchster Regierungsebene agierte und dessen ehemaliger KGB-Hintergrund ihm nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einem großen Vermögen verholfen hatte. Jeder, der heute das Land regierte, war früher beim KGB gewesen. Traumhafte Möglichkeiten waren im Schoß jenes erlesenen Clubs gelandet, in dem er stolzes Mitglied war.
Er drückte einen Knopf auf einer Fernbedienung, worauf ein Teil der Holzvertäfelung an der Wand zur Seite rückte und einen Fünfundsiebzig-Zoll-Flachbildfernseher freigab. Sein Finger kreiste zögernd über dem Einschaltknopf. Warum sollte er sich selbst quälen?
Weil die Zeit gekommen war.
Er schaltete das Gerät ein und der Bildschirm wurde flackernd heller.
Erst war grobkörniges Rauschen zu sehen, dann erschien das Standbild einer Einfahrt, das von der Linsenverzerrung einen leichten Fischaugeneffekt hatte. Das Farbbild war brillant – erstaunlicherweise. Die Kamera, die es aufgenommen hatte, war auf dem allerneuesten Stand der Technik; es war an nichts gespart worden.
Ton gab es keinen. Im entlegenen Winkel des Sichtfeldes erkannte Gridschenko eine Bewegung. Ein Mann fiel rückwärts ins Bild, dreißig Meter von der Kamera entfernt, die in einer Höhe von ungefähr vier Metern über dem Boden angebracht war. Die Spritzer vom rostfarbenen Blut des Mannes waren in der erleuchteten Dunkelheit der Nacht gut zu erkennen, wenn man auf Pause drückte und den Ausschnitt vergrößerte, das wusste Gridschenko, aber er sah keinen Grund, sich das noch einmal anzutun. Er konnte die Bilder nach Belieben manipulieren, zum Beispiel die Lumineszenz erhöhen oder einen Ausschnitt so nah heranzoomen, dass er die Nummer auf einem Schlüssel lesen konnte. Das und mehr hatte er alles schon ausprobiert. Er wusste, was sich alles entdecken ließ.
Dann sah er es. Dort. Wie er es schon hunderte Male gesehen hatte. Eine verschwommene Bewegung. Eine völlig schwarz gekleidete Gestalt, die sich unerwartete schnell und agil bewegte. Im einen Augenblick zeigte der Ausschnitt nichts, im nächsten huschte eine schnelle Bewegung durch das Bild, als die Gestalt zum Hintereingang unter der Kamera sprintete. Einen Moment später zeigte das Bild wieder nur Rauschen.
Dann kam die Schlussszene dieses Familiendramas, das Gridschenko genoss wie einen guten Wein. Er hatte sie sich mindestens tausendmal angesehen. Ein anderer Blickwinkel, der Flur. Die Kamera war in einer Mulde in der Wand versteckt, wie er später erfahren hatte. Die gleiche unglaublich hochauflösende Bildqualität.
Eine Innentür. Solide eingebaut. Sie wirkte alt mit ihren erkennbar antiken Schnitzereien und dem Schreinerhandwerk alter Schule. Zu ihren Füßen tickte ein Countdown, zehntelsekundenweise.
Die Tür ging auf, und eine schwarzgekleidete Gestalt, deren Oberkörper blutverschmiert war, trat heraus. Auf dem Kopf trug sie eine Skimütze, welche das Gesicht komplett verbarg – nur die Augen waren zu erkennen. Die Gestalt bewegte sich schleichend und geschmeidig, sie tat jeden Schritt sehr präzise und hielt eine Pistole in der Hand.
Dann geschah es.
Die Gestalt blickte zur Kamera auf.
Für einen Moment, der kürzer war als ein Herzschlag, für eine Nanosekunde sozusagen, konnte die Linse direkt in die Seele dieser Gestalt blicken, obwohl sie leer auf etwas starrte, von dem sie nicht wusste, dass es da war. Man hatte ihm gesagt, die geheime Kamera sei so geschickt versteckt, dass niemand in der Lage war, sie zu entdecken. Die Linse war in einer kunstvoll verzierten Mulde eingelassen, von denen viele die Decke des Flurs schmückten. Jedes Mal, wenn er sich diesen Teil der Aufzeichnung ansah, hatte er den Eindruck, die Gestalt starre ihn direkt an und wisse, dass er zusah. Ihm war klar, dass das nur eine Illusion sein konnte. Unmöglich. Trotzdem ereilte ihn jedes Mal das gleiche Gefühl. Er verspürte den Drang, den Film an dieser Stelle anzuhalten und das Standbild des fremden Eindringlings zu betrachten. Standbilder sind normalerweise verschwommener, aber dieses hier hatte so eine brillante digitale Auflösung, dass er es vergrößern konnte, bis er ohne nennenswerten Qualitätsverlust einen Zentimeter an das Auge heranzoomen konnte.
Der Moment zog sich unangenehm in die Länge, als Gridschenko die Gestalt musterte, um nach etwas zu suchen, was er übersehen hatte, was ihm entgangen war. Wie immer drückte er schließlich wieder auf ›Play‹, da seine Untersuchungen nichts Neues ergeben hatten.
Dann war es vorbei. Die Gestalt verschwand aus dem Bild und hinterließ nichts als blutige Abdrücke auf dem kostbaren Teppichboden.
Gridschenko nahm den Rest seines Drinks zu sich, während die Aufzeichnung zu ihrem Ende gelangte und der Bildschirm schwarz wurde. Er erhob sich schwerfällig von der Couch und kehrte zum Tisch mit der Flasche zurück. Aus schmerzlicher Erfahrung wusste er, dass es eine lange Nacht werden würde, wenn er sich hinreißen ließ, das Ganze wieder und wieder fortzusetzen. Wissen und Machen waren jedoch noch immer zwei völlig unterschiedliche Dinge. Er schenkte sich einen weiteren anständigen Schluck Wodka ein, nahm noch eine Zigarette aus der Packung und setzte sich hin.
Später würde er in sein reich verziertes Schlafzimmer wanken, wo seine neueste Eroberung, eine siebzehnjährige Bolschoi-Balletthoffnung, geduldig seiner Aufwartung harrte. Irena wusste das wilde Tier in ihm zu besänftigen wie niemand sonst, den er kannte, was sie zugleich unwiderstehlich wie gefährlich machte. Sie hatte eine Macht über ihn, die er wegen ihrer Größe fürchtete – er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal jemanden so sehr wollte, wie er sie wollte. Es war wie ein Virus. Eine Krankheit. Eine Sucht.
Dennoch hatte er sich entschieden, diesen kurzen Film anzusehen, statt sich ihrer Leidenschaft und ihrer Reize hinzugeben. Zumindest vorerst.
Er nahm wieder Platz und griff nach der Fernbedienung. Dann spulte er zurück zum Anfang und nahm einen tiefen, brennenden Schluck, während der Bildschirm wiederholt aufflackerte und ihm das Phantom zeigte, das ihn richtig quälte, wie es da vor der Wand prangte und einen regelrechten Kabuki-Tanz aufführte, der ihn jedes Mal so in den Bann zog, dass seine Kiefer mahlten und seine Zähne knirschten vor kaum kontrollierbarer Wut.
Kapitel 4
Drei Jahre früher, Belize, Mittelamerika
Die Rotorblätter des Helikopters durchschnitten hypnotisch wummernd die feuchte Luft, als er in einer Höhe von fünfhundert Metern über den Wipfeln des Dschungels nördlich von Spanish Lookout flog. Die fünf Passagiere blickten durch die Fenster auf das Gelände