Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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zum Bombentrichter. Über der Kackwurst schwirrten jetzt noch viel mehr Fliegen. Bei den dicksten funkelte der Rücken grün und dunkelblau. Sie hockten auf der Wurst und rieben sich die Vorderbeine.

      Um Wanderer zu erschrecken, brüllten wir: »Hilfe, ein Wolf! Hilfe, ein Wildschwein! Hilfe, ein Krokodil!« Bis uns ein Mann entgegenkam, der sagte, daß wir das lassen sollten. Irgendwann brauche wirklich mal jemand Hilfe, und dann gehe da keiner hin, weil alle die Hilferufe für Kindermätzchen hielten.

      Mama wollte wissen, woher der Riß in meinem Anorakärmel stamme und weshalb die Hose an den Knien und am Hintern schon wieder durch sei, aber das wußte ich auch nicht. Das kam, ohne daß ich was dafür konnte.

      Einmal traf ich morgens Kalli auf der Straße. Er hatte seinen Schulranzen in der Hand und ich meine Schippe. »Na, Martin, willste wieder zu deiner geliebten Falle?« Ich müsse Zweige über die Falle legen und zur Tarnung Erde und Blätter drüberstreuen, sagte Kalli. Tarnung sei die halbe Miete.

      Bei der Falle kratzte ich mit der Schippenspitze Erde zwischen den Baumwurzeln raus. In die fertige Falle wollte ich Stöcke stecken. Dann würde vielleicht ein Junge kommen und sich wundern, daß da Stöcke stecken. Der würde dann seine Mutter holen, und dann würden alle beide in die Falle krachen.

      Weil sie auch mal unsere Höhle sehen wollte, zeigten Uwe und ich Renate den Weg dahin. Renate ging sonst nie ins Wäldchen. »Das ist ja gar keine Höhle«, sagte sie, als wir da waren. Sie wollte wieder nach oben klettern, rutschte aber ab und schlidderte die Schlucht runter.

      An den Armen hatte Renate Striemen von den Dornen und den Ginsterbüschen, und dann war ihr noch der Fuß umgeknickt. Auf dem Oberschenkel hatte sie einen blauen Fleck, der abends violett wurde, und sie sagte, das sei die blödeste Höhle gewesen, die sie je gesehen habe.

      Wenn Familie Feuerstein lief, kuckte auch Papa zu. Der Dinosaurier schleckte Fred Feuerstein immer ab und legte Eier, die drei Stunden lang gekocht werden mußten, bevor man sie essen konnte. Man kriegte sie aber nur mit Hammer und Meißel auf. Zu trinken gab es dazu Säbelzahntigermilch. Die Frau von Fred Feuerstein benutzte ein Elefantenbaby als Staubsauger, und Barny Geröllheimer, der Nachbar, lief dauernd bei Familie Feuerstein rum. Herr Strack lief nie bei uns rum.

      Meinen Schlafanzug durfte ich auch im Wohnzimmer anziehen, aber ich wollte nicht, daß mir die Leute im Fernsehen beim Ausziehen zusahen. »Die kucken dir schon nichts weg, die können dich gar nicht sehen«, sagte Mama, aber ich ging lieber in den Flur, bis ich die Hose anhatte.

      Dann hatte ich schon wieder Fieber, Schnupfen und Husten und mußte allein in Renates Zimmer liegen. Mama rief den Kinderarzt an, gab mir eine Rheumalinddecke und ließ die Jalousie runter.

      Antibiotika.

      Der Kinderarzt leuchtete mir in den Hals, sah sich auch meinen Bauch an und sagte, daß ich die Masern hätte. Von dem Kartoffelbrei, den Mama mir brachte, wollte ich nur zwei Löffel. Ich hatte nicht mal Lust, an den Schrauben in den Vorhangstoppern zu drehen.

      Der liebe Gott hatte alles gemacht, am Anfang auch sich selbst. Aber womit hatte er sich die Arme drangesetzt, wenn er noch keine Arme hatte?

      Einmal würde die Sonne der Erde so nahekommen, daß alles verbrennt, hatte Mama mal gesagt. Die Häuser würden verbrennen, und die Leute würden über die Straßen rennen, weg von der Sonne. Da würden wir aber alle schon längst im Himmel sein.

      Ich hatte Pickel am Hals und am Bauch. Wenn ich aufs Klo mußte, rief ich Mama. Sie half mir dann, und sie schlackerte auch die Decken auf.

      Wenn man in den Himmel komme, öffne der liebe Gott ein Buch, und da stehe alles drin, was man gemacht habe, das Gute und das Böse, hatte Volker gesagt, und dann werde der liebe Gott nachkucken, ob man nicht doch in die Hölle gehöre. Da würden die bösen Menschen vom Teufel in Kochtöpfen gekocht.

      Renate, die die Masern schon gehabt hatte, las mir was aus ihren zerfledderten Teddy-Heften vor: Es lebte einst ein dicker Mann in einem kleinen Hause. Der aß und schlief und schlief und aß und schlemmte ohne Pause. Gebratene Tauben, rohen Schinken, ein ganzes Reh, fünf Liter Milch und drei Schokoladentorten hatte der dicke, schlampampende Mann in sich reingestopft, bis er nicht mehr durch die Tür paßte und sich in ein Schwein verwandelte.

      Dann sang Renate mir ein Lied vor: Wenn die Bettelleute tanzen, wackeln Kober und der Ranzen.

      Als ich wieder gesund war, versuchten Uwe und ich einen neuen Trick. Wir gingen bei A&O rein und suchten uns Süßigkeiten aus den Regalen, bis wir beide Hände voll hatten, und gingen langsam zur Kasse. Vor uns war noch eine Frau dran. Dann rannten wir an der Frau vorbei nach draußen. Die Kassiererin rief uns nach, daß wir stehenbleiben sollten, aber wir rannten weiter, vom Ladenviertel aus über die Straße vorm Hochhaus und in den Wald rauf, bis ich Seitenstechen kriegte.

      »Die Luft ist rein«, sagte Uwe.

      Ich hatte eine Tüte Treets verloren, aber wir hatten noch genug übrig. Waffeln, Kekse, Bonbons, Schokolade mit Haselnüssen und eine Rolle Drops, von denen es einem kalt im Mund wurde.

      Bevor wir wieder bei A&O reingingen, kuckten wir von draußen durch die Scheibe nach, ob da noch dieselbe Kassiererin saß. Es war eine andere, die uns noch nicht kannte. Die konnten wir reinlegen.

      Als wir losrannten, lief ein Mann hinter uns her, der bei A&O was eingekauft hatte. Vorm Hochhaus hielt er Uwe an der Kapuze fest. Ich trat dem Mann vors Schienbein, und da ließ er Uwes Kapuze los und schnappte sich meine. Uwe half mir und boxte dem Mann in den Bauch. Wir seien Diebe, rief der Mann, und Uwe rief zurück, daß er, der Mann, dafür ein Arschloch sei. Dabei fiel uns fast alles hin, was wir uns bei A&O ausgesucht hatten.

      Dann ließ der Mann uns beide los und sammelte auf, was uns runtergefallen war.

      Oben im Wald legten wir zusammen, was wir noch hatten. Mir war ein Packung Puffreis durch das Loch in der Hosentasche ins Hosenbein gesackt. Uwe hatte noch eine Lutscherkette und ein Netz mit Schokoladenkugeln.

      Der würde sich jetzt schön ärgern, der Kacker, sagte Uwe. Dem hätten wir’s gezeigt. Was hatte der uns überhaupt nachrennen müssen? Als ob dem die Sachen selber gehört hätten. Das waren genausowenig dem seine wie unsere.

      Oma Schlosser kam zu Besuch. Sie schlief im Nähzimmer, auch mittags, und dann mußten wir leise sein.

      Wenn sie ausgeschlafen hatte, setzte sie sich an den Eßtisch und legte Patiencen. Es mußte auch oft nach ihrem Krückstock gesucht werden. Der stand dann hinter der Küchentür, an der Flurgarderobe oder neben dem oberen Klo.

      Renate, die seit neuestem Geigenunterricht hatte, mußte Oma was vorspielen. Papa sagte, daß er stumpfe Zähne kriege von dem Gefiechel, und er ging in den Keller.

      Da bastelte er einen Drachen, den wir auf dem Feld vorm Wäldchen steigen ließen. Papa hielt die Schnur, und Volker mußte den Drachen hochwerfen, der in die höchsten Höhen flog.

      Ich hätte auch gerne mal die Schnur gehalten.

      Den Trick bei A&O versuchte ich auch mit Volker zusammen. Die Kassiererin war wieder eine andere. Um schneller rennen zu können, klemmten wir uns nichts unter die Arme, sondern nahmen nur jeder eine Tafel Ritter-Sport mit.

      Volker kannte eine Hochhaustür, die nicht richtig zuging. Wir liefen eine Treppe hoch, die zu einem großen Balkon führte, von wo man auf die Straße und aufs Ladenviertel kucken konnte. Da wickelten wir die Schokoladentafeln aus und aßen sie auf.

      Nougat und Vollmilch.

      Hier sei seine Ponderosa, sagte Volker.

      Mama brachte Adventskalender von A&O mit. Meiner wurde so hoch aufgehängt, daß ich nicht drankam. »Sonst frißt du ja doch wieder alles gleich leer«, sagte Mama. Ich mußte sie jeden Tag darum bitten, das neue Türchen aufzumachen und mir die Schokolade zu geben.

      In der Augsburger Puppenkiste rollten die Soldaten der Blechbüchsenarmee vom Berg runter, um die Feinde plattzuwalzen wie Pfannekuchen, und der