Gytha Lodge

Bis ihr sie findet


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hast du gut gemacht«, sagte Jonah nickend. »Das hätte nicht jeder erkannt.«

      Jessie nickte, lächelte schüchtern und stand auf. Ihre Mutter zog sie an sich und umarmte sie kurz.

      »Ich möchte, dass sie für ein paar Tage nicht mit ihren Schulfreundinnen darüber spricht«, sagte Jonah zu Mrs Miller, nachdem sie ihre Tochter losgelassen hatte.

      »Das ist kein Problem, in den nächsten paar Wochen trifft sie niemanden. Wir wollen unseren Urlaub fortsetzen, aber woanders.«

      Privat unterrichtete Kinder, begriff er. Sie waren schon einen Monat vor dem Ferienbeginn der staatlichen Schulen im Urlaub.

      »Gut. Es wäre besser, wenn zunächst noch nicht darüber geredet wird.«

      »Selbstverständlich.«

      Er hörte Dr. Miller näher kommen.

      »Sind wir hier fertig? Es ist ein schöner Tag, und ich glaube nicht, dass wir noch viel hinzuzufügen haben.«

      »Ja, wir sind fertig. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

      Als Jonah aufstand, erteilte der Arzt seinen Kindern bereits Befehle zu packen und scheuchte sie zum Zelt.

      Jonah ertappte sich dabei, Mrs Miller zu beobachten, die ebenfalls aufstand und ein paar halb leere Tüten mit Rosinen und eine Tasse einsammelte.

      »Tut mir leid, dass Ihr Urlaub unterbrochen wurde«, sagte er.

      »Das macht nichts«, sagte sie und winkte ab, bevor sie sich zu ihrem Mann umblickte. »Martin ist bloß … Für ihn ist es nicht so toll.« Sie senkte die Stimme. »Der Urlaub sollte ihn ablenken … Es geht ihm sehr schlecht. Sie sagen, die Chance, dass er bis Weihnachten überlebt, beträgt nur fünfzig Prozent.«

      Jonah nickte und fragte sich, ob sie es gewohnt war, sich für ihren Mann zu entschuldigen. Er begriff, dass der Mann Krebs hatte und diese Knochen für ihn eine Begegnung mit der Sterblichkeit gewesen waren. Er empfand einen Hauch von Mitleid.

      Die Ausgrabung dauerte schon anderthalb Stunden. Dutzende von Fotos wurden gemacht, ein Zelt wurde über dem Fundort errichtet, acht Tüten wurden mit sorgfältig etikettierten Knochenfragmenten gefüllt.

      Allen war heiß, alle waren gereizt. Jonah hatte einen bitteren Geschmack im Mund, stundenalter Kaffee. Er konnte die Füße nicht still halten und verspürte einen kräftezehrenden Hunger, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren.

      »Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Hanson, nachdem sie mehrmals zum Parkplatz und wieder zurück gelaufen war.

      Die Aufregung war in Langeweile umgeschlagen, die einzige verlässliche Konstante im emotionalen Spektrum eines Detective.

      »Ich denke, es wird noch eine Weile dauern«, sagte Jonah. »Es ist eine alte Leiche … das ist zeitaufwendig.«

      »Können wir sonst irgendwas …?«

      »Wir können hier sein, wenn sie uns sprechen wollen«, sagte er und deutete ein Lächeln an.

      Gut zwanzig Minuten später stieg Linda McCullough behutsam aus der Bodensenke und kam auf ihn zu. Er war froh, dass McCullough die Spurensicherung leitete. An einem Tatort, der bestenfalls noch zarte Reste von Indizien aufwies, musste man geradezu zwanghaft vorsichtig sein.

      »Wie läuft es, Linda?«

      »Wir werden noch einige Zeit damit beschäftigt sein, alles einzusammeln.« Sie nahm ihre Maske vom Gesicht und schob sie über ihre weiße Kapuze. Ihr wettergegerbtes Gesicht war schweißnass, was wohl bei jedem, der bei dem Wetter einen Overall hätte tragen müssen, so gewesen wäre. Aber McCullough schien es gar nicht zu bemerken. »Um Ihnen wenigstens eine erste Rückmeldung zu geben: Es handelt sich um ein pubertierendes Mädchen im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung.«

      »Wie fortgeschritten?«

      »Es ist nur eine grobe Schätzung, aber mehr als zehn Jahre. Und weniger als fünfzig.«

      Dreißig Jahre, dachte er. Dreißig.

      Einen Moment lang fand er es schwer zu glauben, dass so viel Zeit vergangen war. Ihn durchzuckte das Gefühl, den größten Teil seines Lebens verschlafen zu haben wie Rip van Winkle. Der hatte wahrscheinlich auch diese seltsame Mischung aus Wut und Schuld empfunden.

      »Linda!«

      McCullough drehte sich um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Ein zweiter weißer Bioanzug beugte sich aus dem Zelt.

      »Ich habe weitere Proben geborgen. Kannst du dir das mal ansehen?«

      »Sicher.«

      Sie setzte ihre Maske auf, kletterte vorsichtig zum Fundort hinunter und verschwand wieder in dem Zelt.

      »Also wenn es ein Mord war, ist er lange her«, sagte Hanson, und Jonah wurde kurz von dem weißen Papier ihres Notizblocks geblendet, als sie eine Seite umschlug. Sie klang enttäuscht, nichts ahnend von den gewaltigen Implikationen, die sich hinter diesen Zahlen verbargen. »Und es ist ein Mädchen im Teenageralter.«

      »Es ist dreißig Jahre her«, sagte er. »Und es ist Aurora Jackson.«

      2. Aurora

      Freitag, 22. Juli 1983, 17:30 Uhr

      Hell, dunkel, hell, dunkel.

      Im Vorbeifahren war jeder Baum ein schattiger Pulsschlag. Es war ein beruhigender Rhythmus. Sie legte den Kopf auf das heruntergelassene Fenster und beobachtete, wie ihre Haare flatterten. Sie stellte sich vor, auf dem heißen Wind zu treiben, weg von hier, irgendwohin, wo das Licht den ganzen Tag orangegolden war.

      »Wo warst du gestern Abend? Ich hab ein paarmal versucht, dich anzurufen.« Es war Topaz, die sich die Sonnenbrille ins schwarze Haar schob und sich von der Rückbank nach vorn beugte. Sie meinte natürlich nicht Aurora.

      Aurora wünschte, Brett wäre nicht so nett zu ihr gewesen und hätte sie nicht auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen. Ihr war klar, dass Topaz dort sitzen wollte. Ihre Schwester war wütend, weil sie nach hinten abgeschoben worden war. Connor war auch wütend gewesen. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Brett angeboten hatte, sie drei mitzunehmen, während Connor und die anderen mit dem Rad fahren mussten.

      »Was? Oh. Ich war im Kino.« Brett wechselte den Gang und streifte dabei mit der Hand Auroras hauchdünnen Rock. »Sorry«, murmelte er.

      Aurora zuckte mit den Schultern und rückte etwas. »Meine Schuld. Ich war im Weg.«

      »Welcher Film? Irgendwas Verrücktes?«, fragte Topaz, halb auf Aurora hängend.

       »Das fliegende Auge.«

      »Noch mal?« Topaz lachte und stupste ihn gegen die Schulter. »Den musst du doch schon zwanzig Mal gesehen haben.«

      »Erst drei Mal«, erwiderte Brett. »Es ist ein Superfilm. Er schlägt fast alles, was dieses Jahr rausgekommen ist, locker aus dem Feld.« Eine kurze Pause, um einen Wagen mit Wohnanhänger zu überholen. »Was für Filme magst du, Aurora?«

      »Was?«

      Es war ein Reflex. So zu tun, als wäre sie woanders. Es passierte so oft, dass sie gar nicht mehr anders konnte, selbst wenn sie zugehört hatte. »Dussel«, hörte sie Topaz murmeln.

      Sie sah Brett an, der sie freundlich anlächelte.

      »Was für Filme siehst du gern?«

      »Ich weiß nicht. Alles … bei dem ich andere Welten zu sehen bekomme, glaube ich. Geschichten, die in fremden Ländern spielen oder im Weltraum oder an Phantasieorten. Liebesfilme mag ich auch.«

      Sie hörte Coralie schnauben und fragte sich, ob sie hätte lügen und antworten sollen, dass sie Actionfilme mochte. Topaz tat immer so, als würden sie ihr gefallen. Sie verdrehte die Augen über »Mädchen-Mädchen«, die nur Schmalzfilme gut fanden. Aurora ließ sie immer reden, obwohl sie wusste, dass Topaz’ Lieblingsfilme entweder historische