verstrickt hatte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
»Polizei, stimmt’s?«
Die Stimme war ebenfalls leblos. Jonah erinnerte sich an die Wut des Mannes nach Auroras Verschwinden. Wie er mit dem Finger in die Luft gestochen und ihnen erklärt hatte, was sie falsch machten und warum sie Aurora nicht finden konnten. Vielleicht brannten dreißig Jahre Wut einen Menschen aus.
»Ja, Tom.« Joy hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und füllte einen uralten Kessel mit Wasser. »Möchtest du …? Ich mach eine Kanne.«
Tom zog sich einen Holzstuhl heran, nahm schwerfällig darauf Platz und sah Hanson und Jonah nacheinander an. Offenbar verlor er schnell das Interesse an beiden, denn sein Blick wanderte zu einem blassen Gemälde an der Wand.
Die nur vom Rauschen des Kessels untermalte Stille dehnte sich bis zur Unbehaglichkeit. Jonahs Geduld war aufgebraucht, bevor das Wasser kochte.
»Wir wollten als Erstes mit Ihnen sprechen. Es hat heute Morgen eine neue Entwicklung gegeben.«
Joy brach in hektische Aktivität aus, schob Tassen über den Tisch, steckte die Hände suchend in beide Taschen und zog sie leer wieder heraus.
»Sie haben Neuigkeiten zu Aurora, Tom«, sagte sie.
»Ja. Das dachte ich mir.«
Jonah fing einen Blick Toms auf, aus dem eine so tiefe Gleichgültigkeit sprach, dass er unwillkürlich wegguckte.
»Eine offizielle Identifizierung muss noch erfolgen«, sagte Jonah, »aber wir haben in der Nähe des Zeltplatzes, wo Aurora verschwunden ist, sterbliche Überreste gefunden. Geschlecht und Alter stimmen überein, und die Überreste sind dem Anschein nach etwa dreißig Jahre alt.« Er wartete auf eine Reaktion. Tom schnippte sich eine Strähne aus den Augen, während Joy den Blick aus irgendeinem Grund fest auf Hanson gerichtet hielt.
»Wir glauben, es ist Ihre Tochter«, schloss Jonah so sanft wie möglich.
Joy starrte mit schlaffem Kinn ins Leere, bevor sie unbeholfen eine Tasse auf den Tisch stellte.
»Sie … Oh, Tom.« Sie atmete geräuschvoll ein, schluchzte und wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen. »Tom. Oh, Tom. Sie ist …«
Hanson legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Tom Jackson zeigte keine Regung, sah seine Frau nur mit leerem Blick an.
»Nun, war doch klar, dass sie nicht mehr lebt, oder?«, sagte er schroff. »Dreißig Jahre und kein verdammtes Wort. Natürlich ist sie tot.«
Zwanzig vor neun an einem Sonntag. Connor Dooley hätte ein freies Wochenende haben sollen, doch er musste trotzdem früh ins Büro, um Arbeiten zu korrigieren und die Institutsratssitzung vorzubereiten. Das kam zunehmend häufiger vor: Ferien und Wochenenden wurden allmählich von Sitzungen, Papierkram und Mediationen vereinnahmt. Genau wie seine Räume. Die schlichten Mahagoniplatten waren von Aktenordnern und Briefumschlägen bedeckt, die wenigen freien Flächen matt und verstaubt.
Heute bereitete Connor sich auf einen Kampf vor. Es war ein frustrierender und unnötiger Kampf, ausgelöst durch den störrischen Geiz des Finanzverwalters. Vor einem Jahr war eine dringend notwendige neue Stelle eingerichtet worden. Die Geschichtsdozenten waren schon lange überlastet gewesen; das College nahm immer mehr Doktoranden und Masterstudenten an. Selbst mit der neu geschaffenen Stelle lagen sie acht Prozent unter dem Betreuungsschnitt. Aber er hatte geglaubt, diesen Kampf zumindest teilweise gewonnen zu haben – bis Lopez eine Professur an der Glasgow University angenommen und der Finanzverwalter verkündet hatte, dass er die Stelle nicht neu besetzen wolle. Er hatte Connor unverblümt erklärt, der zusätzliche Dozent sei ein Luxus gewesen, den man sich nicht länger leisten könne. Die drei aktuellen Dozenten könnten die zusätzliche Arbeit untereinander aufteilen.
Also saß Connor am Sonntagmorgen, noch bevor die Cafés auf der West Nicholson Street öffneten, in seinem Büro, um Tabellen und Diagramme zu den zeitlichen Verpflichtungen seines Lehrkörpers auszudrucken. Er würde den Finanzverwalter mit Fakten erschlagen. Und wenn diese Taktik scheiterte, könnte er den Mann vielleicht einfach zum Abendessen einladen. Manchmal war alles Kämpfen unnötig, wenn seine Frau im kleinen Schwarzen auf einen Kollegen zuging.
Das Summen seines Telefons war ihm halb willkommen, ein Vorwand, die Aufbereitung der Daten zu verschieben. Ein Grund, die Phantasie zu verdrängen, dass er den Finanzverwalter mit beiden Händen an seinem schwabbeligen Hals packen wollte.
Topaz. Rief sie an, um das Mittagessen abzusagen? Er erinnerte sich vage, dass sie sich in Sportkleidung mit zurückgekämmtem Haar in aller Herrgottsfrühe mit einem Kuss von ihm verabschiedet hatte.
Er wusste nicht mehr genau, was sie vorgehabt hatte. Früher als üblich trainieren offensichtlich. Danach würde sie irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Eins dieser Treffen, die halb Geschäftstermin, halb privater Plausch waren.
»Hey, T«, sagte er. »Alles okay?«
»Sie haben sie gefunden.«
Es war ein eigenartiger Moment. Er hörte die Emotion in ihrer Stimme, konnte sie jedoch nicht genau einordnen. Er wusste, wen sie meinte, ohne dass sie es aussprechen musste. Die Vorstellung, Topaz könnte ihm berichten, sie habe all die Jahre gelebt und sich nur versteckt, ließ ihn kurz schwindeln.
»Ist sie …«
»Sie hat den Zeltplatz nie verlassen.« Jetzt hörte er die Schärfe in ihrer Stimme. »Man hat Überreste in der Nähe des Flusses gefunden. Sie ist es. Sie ist …«
Die folgende Pause war lang und schrecklich. Es war aussichtslos, seine Frau auf irgendeine sinnvolle Weise trösten zu wollen, doch er versuchte es trotzdem.
»Oh, Topaz«, sagte er. Und dann: »Ich komm dich abholen.«
Ein feuchter Atemzug.
»Sorry … ja. Bitte. Wir sollten runterfliegen. Es gibt bestimmt Flüge …«
Connor zögerte, dachte an den Finanzverwalter und den Kampf, den er unweigerlich verlieren würde, wenn er jetzt wegfuhr. Aber dieser Gedanke wurde von der Erinnerung an einen heißen, dunstigen Sommer und ein Mädchen mit einer Korona aus blondem Haar durchschnitten.
»Klar. Ich sag die Sitzungen morgen ab. Wir sollten hinfahren.«
Er legte auf und stand eine Weile reglos da.
Sie war also beim Fluss …
Er dachte darüber nach, was das bedeutete. Dann klappte er den Laptop zu und begann, seine Sachen wieder einzupacken.
4. Aurora
Freitag, 22. Juli 1983, 18:15 Uhr
»Wir haben es im letzten Sommer entdeckt, als wir hier draußen Benners’ Geburtstag gefeiert haben.« Topaz kletterte die bröckelige Uferböschung hinunter. Coralie war wie gewohnt direkt hinter ihr, stolperte auf ihren dünnen Beinen wie ein Fohlen, immer kurz davor hinzufallen. Benners, Connor und Jojo waren noch nicht eingetroffen, aber Topaz konnte es offenbar nicht abwarten, Brett herumzuführen.
Brett schien durchaus zufrieden damit, sich alles zeigen zu lassen. Er folgte den beiden so dicht, dass er sie mit der ausgestreckten Hand berühren konnte, wenn er denn wollte. Aurora glaubte, dass er es wollte. Alle wollten das.
Aurora ging in einigem Abstand hinterher, trunken von Hitze und Sonnenschein. Sie folgte ihnen nur, um zu folgen. Als sie am Rand des Ufers stolperte, erinnerte Brett sich daran, dass sie da war, und drehte sich um. »Warst du schon mal hier?«
»Nein.«
»Aurora …« Sie hörte die Schärfe in der Stimme ihrer Schwester.
Coralie sah sie an und flüsterte: »Super, das Kind der Liebe ist auch hier …«
Topaz hatte sich umgedreht. Unsicher versperrte sie ihnen mit ihrem Körper den Weg. Hinter ihr breitete eine riesige Buche ihre Äste aus, ihre Wurzeln ragten bis in den glitzernden Fluss.
»Kein Wort zu Mum und Dad, ist