»Das ist mein Ernst.«
Sie blickte in die undurchdringlichen blauen Augen ihrer Schwester. In diesem Moment war sie wie ein scharfkantiger Fels. Wie aus unnachgiebigem Stein gehauen. Gemeißelt und verwittert.
»Natürlich erzähl ich ihnen nichts.«
»Dann kommt.« Brett trat vor und legte eine Hand auf Topaz’ dunkle, bronzefarbene Schulter. Sie gab nach und drehte sich wieder um.
»Hier entlang.«
Sie tauchte mit dem Kopf unter ein Dach aus glänzenden Blättern und verschwand im Halbdunkel. Aurora ließ Coralie und Brett vorgehen und streckte die Hand aus, um das dichte grüne Blattwerk zu berühren.
»Es ist heiß hier.« Sie beugte sich vor. »Hast du Durst?«, flüsterte sie dem Baum zu.
Dann duckte auch sie sich unter die Blätter. Im Schatten des Baumes war der Boden kahl und dunkelbraun, nur lockere Erde und glatte Wurzeln sowie ein einzelner strauchartiger Sprössling direkt unten am Stamm.
Topaz bog zwei seiner Äste beiseite. Dahinter befand sich eine düstere Kammer, wo der Fluss die Uferböschung ausgehöhlt hatte.
»Cool!«, sagte Brett und trat einen Schritt vor.
»Guck es dir an«, sagte Topaz. »Es kann immer nur eine Person reinkriechen.«
Aurora beobachtete, wie Brett seine breiten Schultern seitlich verschob und sich durch die Öffnung zwängte.
»Was ist da drinnen?«, fragte Aurora. Es sah aus wie der Bau eines Tieres. Ein Dachs, ein Kaninchen. Vielleicht ein Otter.
»Privatsachen«, sagte Topaz sofort. »Sachen, über die du den Mund halten musst. Verstanden?«
Aurora zuckte die Schultern. »Okay.«
Und dann tauchte Brett mit schmutzigem Gesicht und leuchtenden Augen wieder auf.
»Mann. Das ist ja ein ordentlicher Vorrat. Woher habt ihr den?«
Topaz grinste ihn an.
»Von einem Freund von Jojos Bruder. Dem ist ein Deal geplatzt, und er schuldete seinem Lieferanten Geld. Benners hat alles zum Selbstkostenpreis gekauft.«
»Mit welchem Geld?«
»Er hat seine Alten darum gebeten«, schaltete Coralie sich ein. »Die haben nichts gerafft. Er hat behauptet, es wäre für ein neues Auto. Er hat für fünfzig Pfund irgendeine Schrottkarre gekauft, und der Rest ist dafür draufgegangen.«
»Meine Fresse.« Brett lachte und rieb sich das Gesicht. »Das reicht ja für eine Menge Partys.« Sein Blick fiel auf Aurora. »Das musst du dir angucken.«
»Nein, muss sie nicht«, erwiderte Topaz. Sie hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und starrte ihre Schwester an.
»Komm schon. Sie erzählt es deinen Eltern bestimmt nicht. Damit würde sie sich genauso reinreißen wie dich. Sie ist schließlich mit uns hier, oder nicht?«
Aurora richtete ihren Blick zwischen die beiden und sah dann, wie Topaz winkte.
Sie sank auf die Knie und kroch in die Höhle, Erde klebte an ihrem Rock. Als sie in die Dunkelheit krabbelte, spürte sie einen winzigen Hauch von Feuchtigkeit in der Luft. Die Erde unter ihren Händen war weich und fühlte sich frisch gelockert an, wie auf einem Grab.
Es war ein kleiner Raum, gerade genug Platz, um zu sitzen oder zu knien. Vor ihr schimmerte etwas in der Dunkelheit. Sie blinzelte und strich mit der Hand über die Wand aus mattem Silber. Sie erkannte, dass es stapelweise sorgfältig gefaltete Päckchen aus Silberfolie in Dutzenden von durchsichtigen Plastikbeuteln waren.
Niemand musste ihr erklären, was sich darin befand. Irgendwelche Drogen, dachte sie. Nichts, wovon sie etwas wissen wollte.
Es war schade, dass sie so viel von dem Raum einnahmen. Es roch ein wenig nach Tier, und Aurora vermutete, dass die Kreatur, die diese Höhle gegraben hatte, verscheucht worden war. Sie konnte sich vorstellen, ein Tier zu sein und hier zu wohnen. Im Winter hier zu schlafen und sicher vor Jägern auf ihre Jungen aufzupassen.
Sie kroch langsam wieder hinaus und klopfte sich die Erde vom Rock. Ein wenig blieb, festgedrückt von ihren Knien, an dem dünnen Stoff kleben.
»Was denkst du?«, fragte Brett sie.
Sie lächelte dünn.
»Es ist schön da drinnen.«
Trotz Bretts dröhnenden Lachens konnte sie Topaz’ verächtliches Schnauben hören.
5.
McCullough zeigte ihm den Kiefer.
»Hier.«
Sie waren in der forensischen Abteilung im Keller der Station. McCullough hatte ihn eine Stunde nach seiner Rückkehr vom Haus der Jacksons angerufen. So schnell hatte er keine Ergebnisse erwartet. Die Identifizierung einer Leiche konnte Tage dauern.
Er beugte sich vor, dankbar, dass die Leiche so alt war und er eine Maske trug. McCullough fuhr mit dem Zeigefinger über den Kiefer.
»Da ist die Füllung. Schauen Sie sich das Innere des zweiten Prämolaren an.«
»Und der angestoßene zweite Schneidezahn. Definitive Identifizierung. Ohne jeden Zweifel.«
Jonah nickte. Er hatte keine Bestätigung gebraucht, aber nun war es offiziell. Es war Aurora.
»Den Unterlagen zufolge war sie vierzehn, als sie gestorben ist«, fügte Linda hinzu.
»Und die Todesursache?«
»Noch nichts Konkretes.« Sie legte den Kieferknochen zurück auf den Rollwagen. »Bei einer ersten rein visuellen Untersuchung des Skeletts habe ich keine Stichwunden oder Schusskanäle festgestellt, aber vielleicht ergibt die digitale Analyse der forensischen Anthropologie mehr. Die kriegen wir in ein paar Tagen.« Sie seufzte frustriert. »Ich hätte wirklich gern genug Material für eine toxikologische Analyse, aber die Verwesung ist ziemlich komplett.«
»Warum eine toxikologische Analyse? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ja, signifikante Spuren eines Grundes.«
Sie ging zu einem abgedeckten Arbeitstisch und zog die Plane weg. In einer Schicht zeichneten sich die Umrisse von in Aluminiumfolie gewickelten Päckchen ab.
»Dexedrin.« Mit behandschuhten Händen öffnete sie einen Plastikbeutel und nahm ein bereits geöffnetes Folienpäckchen heraus. Darin befand sich ein grauweißes Pulver, schwammartig verklumpt wie bröckeliger Putz. »Wir haben mehrere Päckchen direkt neben der Leiche gefunden. Der Chemiker hat Proben genommen; sieht nach medizinischer Qualität aus, meint er. In der Erde waren weitere Päckchen, und der Boden in der Nähe der Leiche wurde allem Anschein nach umgegraben. Möglicherweise wurde ein Teil des Vorrats weggeschafft. Ob durch Tiere oder nicht, ist schwer zu sagen.«
Jonah trug ebenfalls Latexhandschuhe. Er tippte mit dem Zeigefinger in das Pulver und versuchte, sich an die amphetamingetränkten Achtziger zu erinnern. War Dexedrin die Ursache der vielen Todesfälle in teuren Penthäusern gewesen? Oder Speed? Oder Crystal Meth? Schwierig auseinanderzuhalten, welche Drogen wann in Mode gewesen waren. So viele Leichen, so viel Puder und Kristalle und Dreck.
»Können Sie versuchen, Gewebereste zu finden, die man auf Spuren untersuchen kann? Wenn sie mit dem ganzen Zeug begraben wurde, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang besteht.«
»Danke«, sagte McCullough trocken. »Darauf war ich noch gar nicht gekommen.«
Jonah lächelte knapp. »Sonst irgendwelche Spuren an der Leiche?«
»Na ja …«
Er wischte sich den Finger an seinem Plastikoverall ab und folgte ihr zurück zu dem Tisch.
»Nichts weiter Aufschlussreiches. Die Leiche lag irgendwann unter Wasser. Aber ich würde sagen, lange nach ihrem Tod.«