Doris Herrmann

Känguruherz


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war also gewiss etwas Einmaliges, und ich bin mir sicher, dass es sich dabei nicht nur um das Ablecken meines salzigen Schweisses handelte.

      Abschied

      Ein sommerlich warmer Tag im Jahre 1971. Strahlender Sonnenschein liess den Zoo in herrlichen Farben aufleben. Eine fröhliche Stimmung lag über allem.

      Diese allgemeine Heiterkeit stand in starkem Kontrast zu meiner eigenen Stimmung. Ich war tief traurig. Vor kurzem war ich von meinem ersten Australien-Aufenthalt zurückgekehrt und hatte Dora einen Besuch abgestattet. Die Kängurus befanden sich zu der Zeit zusammen mit den Sumpfantilopen im Freien. Dora hoppelte langsam und beschwerlich direkt zu mir ans Gitter, richtete sich halb auf und betrachtete mich. Voller Sorge und Kummer bemerkte ich ihren altersbedingt schlechten Zustand. Ich streichelte sie und spürte erschreckend deutlich die Knochen unter ihrem Fell. Darauf blieben wir sehr lange beieinander stehen und blickten uns an. In jenem Augenblick spürte ich, dass dies unsere allerletzte Begegnung sein würde. Während ich sie stumm betrachtete, führte ich einen inneren Kampf gegen meine aufkeimende Furcht, nicht zu wissen, wie ich ohne sie leben sollte. Dora blieb noch lange reglos stehen, als ob sie mir sagen wollte: „Ich möchte unser langes, glückliches Verhältnis bezeugen. Dies wird unser endgültiger Abschied sein!“

      Am übernächsten Tag sass Mama mit rotem Gesicht und tränenden Augen bei Tisch. Ich traute mich nicht nach dem Grund ihrer Traurigkeit zu fragen, denn ich spürte, dass sich tags zuvor etwas Entscheidendes ereignet hatte. Mama teilte mir mit, dass Dora verstorben sei. Sie war sichtlich besorgt um mich, war ihr doch klar, dass dies für mich einen schweren Verlust bedeutete. Doch ich war tapfer und versuchte meine Gedanken und Vorstellungen ein wenig damit aufzuhellen, dass Doras mit ihren 23 Jahren und 5 Monaten das Alter eines Methusalems unter den Kängurus erreicht hatte, und dass dies genügte, um ganz gewiss erlöst zu werden.

      *Mehr als 30 Jahre danach modellierte ich aus dem Gedächtnis einen grossen Beutel aus Ton als Tastfigur für Blinde.

      **Ist Wasser in der Nähe, bedienen sich die Tiere nicht selten auch dieser Möglichkeit.

       Ein fester Entschluss

      Selbststudium

      Unser Garten grenzte an ein noch wildes Stück Natur mit hoch aufragenden Bäumen und efeubedecktem Boden. Mitunter liess sich ein Reh blicken. Die Vögel, ob gross oder klein, machten sich oft die Nistplätze streitig. Igel bewegten sich aus ihrem Versteck unterm Holunderstrauch über unseren Rasen. An dessen Rand floss ein Bächlein, reich und wild bewachsen von vielerlei Waldpflanzen, die ich so sehr liebte, dass ich meinen Eltern mit Erfolg verbot, ihn zu „ verschönern“. Für mich war es ein wahres Paradies, ein Ort für fesselnde Tierbeobachtungen, die ich fast jeden Tag, mal im Garten, mal vom Bett aus, mit dem Feldstecher anstellte. So schuf ich mir eine gute Basis für spätere intensive Feldbeobachtungen, zum Beispiel die der Murmeltierkolonien im Engadin oder der Gämsen beim Aletschgletscher.

      Es war an einem warmen Sommertag – ich sass mit Tante beim Tee auf unserem herrlichen Sitzplatz – als sie meinte, zum Glück hätte ich nicht nur Interesse an Kängurus, sondern auch an all den anderen Tieren, die im Garten und im Wald lebten. Damit hatte sie Recht. Mein Interesse und meine Zuneigung galten der Natur in ihrer ganzen Vielfalt und beschränkten sich nicht nur auf die Kängurus, eine „Spezialisierung“, die mir allzu leicht als Spleen hätte ausgelegt werden können.

      Einmal nach Feierabend kam Papa in bester Laune zu mir, um zu berichten, er habe von Onkel Fritz im Tessin erfahren, dass ein deutscher Student Kängurus im Zürcher Zoo beobachte und darüber schreibe. Endlich ein Gleichgesinnter! Genau das war es, was ich mir immer gewünscht hatte! Er hiess Karl H. Winkelsträter, kam aus dem Saarland und wurde schon wenige Jahre später Direktor des Zoologischen Gartens in Saarbrücken. Einige Monate danach begannen wir miteinander zu korrespondieren und über Kängurus zu fachsimpeln. Ausführlich berichtete er über seine fehlgeschlagenen Beobachtungen einer Kängurugeburt und über die merkwürdige Angewohnheit der Tiere, sich mitunter die Gliedmassen so ausgiebig zu lecken, bis sie völlig nass waren.

      So wurde ich von einem Experten in eine Menge wichtiger Fakten, Fragestellungen und Probleme eingeweiht, was meine Wissbegier weckte. Dies führte schliesslich dazu, dass Mama mir vorwarf, ich solle mich mehr auf die Büroarbeit konzentrieren, statt stundenlang vor dem Kängurugehege im Zoo zu sitzen. Doch ich blieb hart und fest entschlossen. Erneut kam es zu Auseinandersetzungen, in denen sie mir klarzumachen versuchte, dass ich ohne ein Universitätsstudium mit meinen Bemühungen nichts würde erreichen können. Ich war ausser mir vor Wut und Verzweiflung und eilte zu Papa, der mich in seiner heiteren und humorvollen Art tröstete. Doch auch er gab mir die Mahnung mit auf den Weg, mich nicht die ganze Zeit nur mit Kängurus zu beschäftigen.

      Für eine Gehörlose gab es damals keine Möglichkeit eines akademischen Studiums, ein sehr bedauerlicher, aber nicht zu beseitigender Umstand. Doch gerade dies gab meinem Willen die erforderliche Festigkeit, nach alternativen Lösungen zu suchen. Es war nicht zuletzt dem starken Ansporn Dr. Winkelsträters zu danken, dass ich den Weg eines Selbststudiums beschritt.

      In meiner beruflichen Arbeit war ich keinen strengen Regeln unterworfen. Die mitunter nur stundenweise Tätigkeit als Büroangestellte im Geschäft meines Vaters liess mir ausreichend Zeit für meine Studien. Zudem erhielt ich regelmässig Unterricht von Zoologiestudenten, die von meinen Eltern honoriert wurden. Doch dieser Unterricht befriedigte mich nicht lange, und ich strebte nach einem höheren Lehrniveau.

      Ich will auch nicht verhehlen, dass ich manchmal den Eindruck hatte, als Sinnesbehinderte von den Studenten bezüglich meines Lernvermögens nicht immer ganz ernst genommen zu werden.

      Schon bald erreichte mich die nächste gute Nachricht von Onkel Fritz aus dem Tessin. Eine junge Zoologin hatte ihn besucht, um sich seine Wollaffenkolonie anzuschauen. Er hatte sie gebeten, mich so schnell wie möglich zu kontaktieren und zu besuchen, damit sie mit mir über die mich besonders interessierenden Gebiete der Zoologie sprechen und mich darin einführen könne. Und so kam es. Sie besuchte mich oft, und wir kommunizierten mühelos. Mit einigen Büchern über die Grundlagen der Tierpsychologie, die sie mir auslieh, spornte sie mich weiter an. Wie besessen las ich die geschenkten, erworbenen oder aus der Universitätsbibliothek entliehenen Bücher und Fachzeitschriften, wobei sich meine Lektüre keineswegs nur auf Känguru-Themen beschränkte. Mich faszinierte vor allem die Verhaltensforschung mit ihren Studien der Tierwelt, von den Einzellern über die Fische und Vögel bis hin zu den höheren Säugetieren. Hierzu las ich Arbeiten von Forschern wie dem späteren Nobelpreisträger Konrad Lorenz, N. Tinbergen, H. Hediger, A. Portmann, I. Eibl-Eibesfeldt und anderen. So schaffte ich es, nicht zuletzt dank der Hilfe von Dr. Lilly Schönholzer, so hiess die Zoologin, mir ein breit gefächertes zoologisches und ethologisches Wissen anzueignen.

      Bei den wilden Rindern am Mittelmeer

      Stolz über mein erweitertes Wissen, bemühten sich meine Eltern, ein geeignetes Praktikum für mich zu finden. Bald darauf erhielt ich einen Brief von Professor Lucas Hofmann, einem Basler Zoologen, der eine Forschungsstation in der Camargue nahe der Küste leitete. Er lud mich ein, dort als Volontärin zu arbeiten. So reiste ich im Juli 1958 zusammen mit Tante, die zufällig ihre Ferien in der Nähe verbringen wollte, dorthin.

      Anfangs war dort vieles fremd für mich, doch ich fand mich bald zurecht, zumal es etliche deutsch- und englischsprachige Wissenschaftler und Studenten gab. Voller Begeisterung schaute ich beim Vogelberingen zu oder half selbst dabei mit, ging mit hinaus in die bezaubernde Seenlandschaft, um die eingefangenen Vögel aus den Netzen zu holen oder sie nach dem Beringen und den Untersuchungen wieder freizulassen. In derselben Forschungsstation arbeitete auch der Schweizer Zoologe Dr. R. Schloeth. Er studierte das Kampfverhalten und die Rangordnung der in riesigen eingezäunten Revieren lebenden Camargue-Rinder. Rasch fühlte ich mich von seinen interessanten Feldbeobachtungen angezogen, und bald schon kommunizierten wir in langen Gesprächen miteinander. In seinem Studierzimmer zeigte er mir Schreibblöcke voll unleserlicher Bleistiftnotizen über jedes „seiner“ Rinder, die er sehr gut auseinanderhalten konnte und von denen jedes eine Nummer hatte. Ich durfte mir verschiedene seiner Tabellen genauer ansehen. Er war es auch, der mich bei ersten praktischen Übungsarbeiten anleitete und mich „hoch zu Ross“ mitnahm, was ich als ungeübte