Doris Herrmann

Känguruherz


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In der Hand trug er ein Aktenköfferchen. Wir begrüssten einander und verständigten uns dann angeregt schriftlich auf Englisch. Prof. Sharman liess sich durch meine Behinderung in der mündlichen Kommunikation nicht schrecken, sondern teilte mir seine Ergebnisse der Kängurubeobachtungen geduldig und einfühlsam mit. Dann entnahm er seinem Köfferchen eine grosse Filmrolle. Beim Lesen der Aufschrift schlug mein Puls schneller: Es war der erste Film über eine Kängurugeburt. Er selber hatte ihn gedreht. (Diese Filmaufnahmen wurden einige Jahre später auf der ganzen Welt vor Fachpublikum und zuletzt auch im Fernsehen gezeigt.) Meine Vorfreude stimulierte auch meine Intuition und liess mich eine rasche Antwort auf die Frage finden, wie denn in aller Eile ein Projektor zu beschaffen sei. Wir begaben uns einfach in den Zoo, wo ich Prof. Sharman die Kängurus zeigen wollte. Bei dieser Gelegenheit suchten wir auch Prof. Lang auf, der sofort alle Hebel in Bewegung setzte und ausser meinen Eltern ein paar Professoren vom Chemischen und Zoologischen Institut zur Filmvorführung einlud.

      Ich war atemlos vor Spannung. Zuerst war ein Geschlechtsakt Roter Riesenkängurus zu sehen, danach die Geburt. In seiner Grösse und Form an ein „Würmchens“ erinnernd, kam das winzige Känguru aus der Geburtsöffnung hervor, befreite sich selbst von der Nabelschnur und schlängelte sich mit Hilfe seiner vorderen Gliedmassen wie eine Eidechse am Bauch der Mutter aufwärts in den Beutel! All dies vollzog sich ohne ein Eingreifen des Muttertieres! Man konnte sehen, dass die vorderen Gliedmassen des Jungen bereits voll ausgebildet waren und kräftig bekrallte Pfötchen aufwiesen, während Hinterbeine und Schwanz noch sehr unentwickelt waren. Wie ich hinterher erfuhr, hatte Prof. Sharman die Kängurumutter ein wenig narkotisiert, um die Aufnahmen besser machen zu können.

      Diese einmalige Dokumentation widerlegte auf einen Schlag alle bisherigen Annahmen einer Beförderung des Neugeborenen mittels Lippen oder Vorderpfoten der Mutter. Hier wurde für jedermann offenkundig, dass das Junge ohne jede mütterliche Hilfe, auch ohne vorbereitete Speichelbahn zwischen Geburtsöffnung und Beuteleingang, allein dank seines vollentwickelten Geruchssinnes, in den Beutel gelangt und zu den Zitzen findet. Als Papa an diesem Abend zu mir ans Bett kam und mich mit väterlichem Stolz nach meinem Befinden fragte, konnte ich nur erwidern: „Es ist so enorm viel davon in meinem Kopf.“ – „Aber Du bist nun berühmt“, sagte er. „Prof. Sharman wird auf seiner Weiterreise in die USA bestimmt über Deine neuesten Beobachtungen bei der Beutelreinigung berichten.“

      An Schlaf war in dieser Nacht natürlich nicht zu denken, zu sehr ging mir dieses Filmereignis nach.

      Doch mein Papa sorgte in seiner ganz persönlichen Weise dafür, dass mir das Ganze nicht zu sehr zu Kopf stieg. So bemerkte er in darauf folgenden Zeit ein paar Mal herzlich-freundschaftlich spöttelnd, ich sei nun auf der Jagd nach dem Titel „Dr. h.c. Känguru.“ – Und in der Tat, die Jagd hatte schon begonnen!

      Fünf Känguruköpfe für Doris

      Professor Sharman und ich korrespondierten weiterhin über unsere jeweiligen Forschungen. Ich befragte ihn zum Thema Sekretdrüsen und Markierungsverhalten der Kängurus, denn ich glaubte, diese Drüsen müssten unterhalb der Augen zu finden sein. Sharman wandte sich mit dieser Frage an Dr. Roman Mykytowycz, der sich mit den Sekretdrüsen bei Kaninchen und verschiedenen Beuteltieren befasste. Dieser hatte eine zündende Idee und offerierte mir fünf Känguruköpfe mit dem Hinweis, ich möge doch selber nach den Sekretdrüsen forschen! Zunächst erschrak ich nicht wenig, ging dann aber auf seinen Vorschlag ein. Mein Gewissen beruhigte ich damit, dass die übergrossen Kängurubestände ohnehin reduziert werden müssten, um Schäden in der Landwirtschaft zu verhüten. Auch meine Eltern und Freunde sprachen mir Mut zu. Dennoch fühlte ich mich furchtbar bedrückt. Ausgerechnet bei der Feier an Yom Kippur, dem Tag der Versöhnung (auch mit den Tieren), fragte mich Mama in der Synagoge, wann denn nun die Känguruköpfe einträfen! Ich fiel aus allen Wolken. Sofort unterband ich jedes weitere Gespräch über dieses Thema.

      Aufgrund bestehender Einfuhrbestimmungen war eine Reihe von Hindernissen zu überwinden. Doch dann, nach gut zwei Monaten Schiffsreise von Australien über Bremen den Rhein hinauf, traf eine Holzkiste im Rheinhafen ein, bestimmt für das Zoologische Institut Basel „zu Händen Doris Herrmann.“ (Da es nicht erlaubt war, Sendungen mit wissenschaftlichen Materialien an eine Privatadresse zu schicken, war Prof. Adolf Portmann (1897–1982), Leiter des Instituts und bekannter Publizist, mit dieser Adresse hilfreich eingesprungen.)

      Vorsichtig hob ich die Gefässe mit den in Formalin konservierten Känguruköpfen – sämtlich ohne Hälse, mit halb geöffneten Augen – eines nach dem anderen aus der Kiste. Dieser Anblick ergriff mich zutiefst. Mir war, als schauten mich alle diese Köpfe mahnend an…

      Jedes Gefäss hatte ein Etikett, auf dem die Daten des zu dem Kopf gehörenden Tieres vermerkt worden waren. Ich riss mich zusammen, bemühte mich tapfer zu sein und übertrug die Angaben in eine von mir vorbereitete Tabelle: Herkunftsgebiet, Geschlecht, Körpergewicht des Tieres und anderes mehr. Spontan und bereitwillig halfen mir die Zoologen und Studenten beim Präparieren der Hautgewebe für die mikroskopischen Untersuchungen. Doch all unsere Bemühungen förderten keine Sekretdrüsen zutage! Meine Enttäuschung über das negative Ergebnis hielt sich in Grenzen, hatte ich es doch dieser irrigen Vermutung zu verdanken, dass ich von nun an in festem Kontakt mit Dr. Mykytowycz blieb, den ich von nun an vertraulich „Myky“ nannte.

      Noch immer kein grünes Licht für das grosse Abenteuer

      Monate später kündigte Myky ganz unerwartet an, mit seiner Frau anlässlich einer Europareise in Basel vorbeizukommen! Ich fühlte mich ausserordentlich geehrt. Beim gemeinsamen Mittagessen mit den Mykytowyczs eröffnete ich meinen Eltern und Verwandten meine Absicht, nach Australien zu gehen, um mir irgendwo im Busch oder an der CSIRO-Forschungsstation eine Arbeit in der Känguruforschung zu suchen. Bei meinen Worten wurde Myky nachdenklich. Dann aber hellte sich sein Gesicht auf, und er versuchte mir klar zu machen, dass es nirgends so schön sei wie in „Switzerland“. Scherzhaft meinte er, es wäre sicher weniger risikoreich und kostspielig, wenn ich hier bliebe und das Leben der Flöhe unter dem Mikroskop erforschte.

      Doch dann begann er, von einem einsamen Ferienort an der australischen Ostküste zu schwärmen, wo man sich ungehindert zwischen halbzahmen, frei lebenden Kängurus bewegen könne. Der Name dieses Ortes war Pebbly Beach. „Wäre das nicht eine Möglichkeit für mich?“ rief ich begeistert. „Du solltest Dir nicht zu viele Dinge in den Kopf setzen lassen!“ wies Mama mich ab. Aufmerksam schaute ich mir die Gesichter der Anwesenden an, in der Hoffnung, aus deren Mimik etwas ablesen zu können, was meinen Wünschen günstig gewesen wäre. Stattdessen – Mama übersetzte mir alles genau – versuchte uns Myky mit allerlei Warnungen bezüglich der Gefahren der Känguruforschung abzuschrecken. So müsse beim Betreten der Gehege wegen der Angriffslust der Böcke mit Unfällen gerechnet werden. Und im Busch sehe man diese Tiere überhaupt nur höchst selten. Doch nur um sie in den lokalen Zoos zu beobachten, lohne sich eine solche Reise wohl kaum.

      Die Ausführungen Mykys und sein Bestreben, meine Australienträume in Luft aufzulösen, deprimierten mich über viele Wochen. Würde ich diesen Kontinent in meinem ganzen Leben denn niemals betreten? Doch trotz meiner Niedergeschlagenheit ging mir der Name Pebbly Beach nicht aus dem Sinn.

      Obwohl ich intensiv studierte und meine Beobachtungen im Zoo, aber auch die Büroarbeiten im Geschäft meines Vaters fortführte, vernachlässigte ich meine kunstgewerbliche Tätigkeit keineswegs. Schon 1957 hatte ich mir einen alten, soliden schwedischen Webstuhl beschafft, den ich selber zusammensetzte. Auf diesem webte ich anfangs Leinenstoffe. Später, beim Weben oder Wirken, Flechten und Knüpfen, verfertigte ich Wandteppiche nach eigens mit Wasserfarben oder Kreide entworfenen Vorlagen. Wegen ihrer feurigen Farben zählten abendliche Dämmerungen für mich zu den allerschönsten Motiven. 1964 gewann ich zu meiner Überraschung den dritten Preis beim Basler Kunstkredit-Wettbewerb und zwar mit einem Entwurf einer zwei mal drei Meter grossen Collage aus vielen bunten Seidenpapieren, die einen Sonnenuntergang am Meer darstellte, wie ich ihn auf einer Israelreise erlebt hatte. Auch der Entwurf eines neuen Wandteppichs für ein Basler Spital stammte von mir.

      Am liebsten jedoch fertigte ich im Garten Mosaikbilder aus gesammelten und behauenen Steinen. Eines dieser Bilder stellte die Erschaffung der Erde dar, ein anderes die Zellteilung und ein drittes die Spaltung des Atoms. Gelben Bernstein, den ich im Tessin gefunden