Vor den imposanten Rindern hatte ich überhaupt keine Angst, auch nicht, wenn ich – was oft geschah – ganz allein im Gras sass. Eher schon fürchtete ich die Schwärme stechender Bremsen!
Über zwei Wochen lang bis zu meiner Heimreise absolvierte ich jeden Tag meine drei- bis sechsstündigen Rinderbeobachtungen. Die Zeit in der Camargue insgesamt war viel zu kurz. In meinem grossen Eifer verfasste ich ein langes Resümé, das ich an Dr. Schloeth schickte.
Bald darauf kam seine kritische Antwort. Ich müsse mehr lesen und mehr denken. Er machte mir an einem Beispiel klar, woran es meiner Arbeit mangelte. Was ich bei den Rindern bis dato für ein spielerisches Aufbocken gehalten hatte, bezog sich allein auf den Geschlechtsakt, der mir nicht hinreichend bekannt war. Ich hatte schlichtweg Aufklärungsdefizite! Folglich riet mir Dr. Schloeth, in dieser Angelegenheit eine vertrauenswürdige Person ganz offen zu fragen. Bis heute bin ich ihm dafür dankbar, denn er wies mir nicht nur bei meinen Studien den richtigen Weg, sondern machte mir auch Mut, mich mit dem Sexualverhaltens beim Tier wie auch beim Menschen ausführlich zu beschäftigen.
Australien rückt näher
Mit meinen nun erweiterten Kenntnissen, die ich zu einem Teil auch aus englischsprachigen Texten bezogen hatte, machte ich mich voller Enthusiasmus auf die Suche nach Menschen, die in Australien lebten, möglichst mit Kängurus zu tun hatten und denen die lokale Fauna und Flora vertraut war. Ich bat den Schweizerischen Bund für Naturschutz (heute Pro Natura Suisse) um Adressen entsprechender Organisationen in Australien. Spät erhielt ich ein Antwortschreiben, dem einige Zeitschriften beigefügt waren. Bei der Lektüre dieser Zeitschriften stiess ich zu meiner nicht geringen Überraschung auf die Zeile: „Doris Herrmann from Switzerland, who is very interested in kangaroos, wants to have contact with some people in Australia.“ Lachend schlug ich mit der Faust auf den Tisch. Die Eltern erschraken, doch blitzschnell schob ich ihnen die Zeitschrift zu und deutete mit dem Finger auf das Gelesene. Als sie auf meinen Namen stiessen, zeigten sie sich hocherfreut und staunten nicht schlecht, dass ich es fertig gebracht hatte, jenem so unendlich fernen Land auf diese Weise ein Stück näher zu kommen. Sie wünschten mir viel Erfolg, mahnten mich aber auch zur Geduld, falls die Antworten meiner Briefpartner länger auf sich warten liessen.
Januar 1959 in den winterlichen Bergen. Gerade war ich bei strahlendem Sonnenschein auf Skiern einen Steilhang hinab gesaust und stieg nun zu Fuss wieder nach oben, als meine Eltern mir fröhlich lachend entgegenkamen. Papa schwenkte einen Luftpostbrief. Aufgeregt nahm ich das Kuvert entgegen und las den Absender. Dann jauchzte ich auf vor Freude: Der Brief war von Geoff Giles, einem Schullehrer aus Morisset in New South Wales, dessen Namen ich jener Zeitschrift entnommen hatte, in der auch mein Name stand. Mein Gefühl sagte mir, dass er die richtige Person für den ersehnten Briefaustausch war. Unweit von Geoffs Haus, so erfuhr ich aus dem Brief, befand sich eine Psychiatrische Klinik, deren zahlreiche kleine oder grössere Pavillons über ein weites, dicht bewachsenes Gelände verstreut lagen. Die Kängurus aus dem nahen Busch betrachteten das Gelände als ihr natürliches Futterreservoir. Zudem wurden sie von den Patienten gefüttert, für die dies eine willkommene Abwechslung war. Doch diese harmonische „Symbiose“ hatte auch eine Kehrseite, da die Tiere so zu leichten Zielscheiben für Sportjäger wurden.
Durch unseren regelmässigen Briefwechsel erfuhr ich bald Näheres über Geoff und seine Familie, Tiere und Pflanzen sowie über Geoffs abenteuerliche Reisen quer durch den australischen Busch. All das ging des Nachts in meine Träume ein, und das Fernweh plagte mich mehr und mehr. So sagte ich oft zu Mama, ich wolle bald mit dem Schiff hinreisen, doch sie meinte nur, Träume seien immer schöner als die Wirklichkeit, von der ich nur enttäuscht werden könne. Aber meine Antwort war klar: „Ich reise trotzdem!“
Nach einem längeren, lebhaften Austausch von Briefen und Zeitschriften ebbte die Korrespondenz mit Geoff leider ab, da er sich aus gesundheitlichen Gründen zunehmend einschränken musste. Zwischendurch hatten sich bereits weitere Korrespondenzen angebahnt, so mit Molly O’Neill, einer aktiven Naturschützerin, die sich leidenschaftlich mit Spinnen befasste und Mrs. Beryl Graham aus Sydney. Von Jahr zu Jahr füllten sich meine Mappen mit Luftpost – so wuchs hier ein Stück Australien, das mit jedem neuen Brief für mich anschaulicher und lebendiger wurde!
Das Eis ist gebrochen!
Seit langem hatte mich ein elementarer und bei den Kängurus besonders beeindruckender Aspekt in der Mutter-Kind-Beziehung beschäftigt: das Sauberhalten des Beutels und des Beuteljungen. Ich durchsuchte die Literatur über Beuteltiere nach diesem Thema und stellte fest, dass hier eine grosse Lücke in der gesamten Känguruforschung klaffte. So begann ich 1961 mit intensiven und systematischen Beobachtungen im Basler Zoo. Nachdem ich eine hinreichende Anzahl von Protokollen erstellt hatte, fasste ich die Resultate in einem zunächst provisorischen Aufsatz zusammen, den ich an Professor Hediger, den damaligen Direktor des Zoologischen Gartens in Zürich, sandte. Meine Absicht war, diese Studie später auszuarbeiten, um sie anschliessend zu veröffentlichen. Doch das monatelange Ausbleiben einer Antwort dämpfte meine anfänglich so hochgespannten Erwartungen.
Hatte ich in der ersten Begeisterung einer Jungforscherin mir vielleicht nur eingebildet, den richtigen Einstieg gefunden zu haben? Musste ich jetzt schweren Herzens und in aller Bescheidenheit den Weg zurück in meinen Alltag antreten? Waren am Ende gar all meine Entdeckungen, die ich glaubte gemacht zu haben, bereits gemacht worden? In meinem Selbstzweifel begann ich, meine Studien für wertlos zu halten. Entmutigt liess ich einfach alles liegen, was ich an Arbeit noch vor mir hatte. Ich wusste nicht mehr ein noch aus.
Eines Abends jedoch, als ich aus dem Büro heimkam, traute ich meinen Augen kaum. Unter den vielen Kuverts war eines mit dem Signet des Zürcher Zoos! Zitternd öffnete ich es und las. In heller Aufregung rannte ich in die Küche und gab Mama den Brief. Augenblicke wurden zu Ewigkeiten – so unfassbar erschien mir dies alles, selbst dann noch, als Mama mir voller Freude und Bewunderung zurief, dass ich doch jetzt eine wertvolle Mitarbeiterin sei!
Nun endlich war das Eis bei meinen Eltern gebrochen, auch wenn ich mich hatte gedulden müssen, bis ich von professioneller Seite Anerkennung und Wertschätzung erfuhr. Ich durfte mich nun zu Recht als im Kreis der Känguruforscher aufgenommen betrachten!
Wenige Tage später fuhr ich mit Mama nach Zürich. Das sonnige Maiwetter und die frisch-grüne Landschaft entsprachen meinen aufgewühlten, gärigen, vorwärts drängenden Gefühlen. Ich sollte den Kängurubestand des Zoos selber in Augenschein nehmen und anschliessend – wie abgemacht – Professor Hediger aufsuchen. Er machte mir Mut zur Weiterführung meiner Studien. So fuhr ich mit meiner Arbeit fort, vervollständigte das Manuskript, und es gelang mir, dank der Unterstützung von Professor Lang, dem damaligen Direktor des Basler Zoos, es in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift zu veröffentlichen.
Bereits während meiner ersten regelmässigen Zoobesuche war mir bei den Kängurus ein häufiges Auftreten aussergewöhnlicher, rhythmischer Kontraktionen des Rumpfes mit anschliessenden Kaubewegungen aufgefallen. Als mir klar wurde, worum es sich handelte, eilte ich zu Professor Lang ins Büro und erklärte ihm, unter Zuhilfenahme von Papier und Bleistift, dass dieser Vorgang nichts anderes als ein unechtes Wiederkäuen darstelle! Dies war auch für ihn so erstaunlich und neu, dass er die Sache zunächst kaum glauben wollte. Doch dann forderte er mich auf, ein Manuskript zu diesem Thema abzufassen. Beide Veröffentlichungen (siehe Anhang) wurden in wissenschaftlichen Publikationen der Schweiz, Deutschlands, Australiens und anderen Ländern zitiert. Auch in „Grzimeks Tierleben“ wurde diese Art des Wiederkäuens bei Kängurus aufgenommen. Auf solch schöne Anerkennung meiner Feldstudien war ich natürlich sehr stolz!
So hatten sich die Worte meiner Mama „Forschen heisst Neues entdecken!“, die ich mir sehr zu Herzen genommen hatte, letztendlich bewahrheitet.
Über all dies berichtete ich Molly O’Neill, die mich mit einem Schreiben Professor G.B. Sharman, einem der bekanntesten Känguruforscher der CSIRO (Commonwealth Scientific Industrial Research Organisation), Wildlife Division Canberra, empfahl. Ihm schickte ich meine Forschungsarbeiten. Nach einem kurzen Schriftwechsel traf ein Telegramm ein, worin es hiess, dass er nach Basel kommen werde. Für mich war es kaum zu fassen, dass dieser auf seinem Gebiet weltberühmte Mann seine allererste Europareise mit einem Abstecher nach Basel verbinden wollte!
Dann war