Doris Herrmann

Känguruherz


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der Reinigungspausen streckt sich das Känguruweibchen wie eine Putzfrau, deren Rücken vom langen Bücken schmerzt. Dabei gähnt sie oder beleckt gründlich ihre Vorderpfoten. Sobald das Junge mit Köpfchen, Pfoten oder Hinterfüssen und Schwanzspitze herausschaut, leckt die Mutter ausgiebig die nun sichtbaren geschmeidigen Körperteile.

      Bliebe die Beutelreinigung aus, würde dies ohne Intervention von aussen für das Junge unausweichlich zum Tode führen. Dies bestätigte mein eigenes Forschungsergebnis: Die mich faszinierende Beutelreinigung ist nichts anderes als eine Stoffwechselfunktion, nämlich die Beseitigung des vom Jungen abgegebenen Kots und Harns.

      Zum Schluss noch eins meiner schönsten Erinnerungsbilder: Dora liegt in der wärmenden Sonne. Das Kleine schaut aus dem Beutel und streckt der Mutter die Schnauze entgegen, worauf diese sich leicht zu ihm hinabbeugt, mit ihm Mundkontakt aufnimmt und, es zärtlich berührend, mit ihm den Atem austauscht…

      Überraschungen

      Kann man ein Känguru beim Namen herbeirufen? Normalerweise nicht. Es ist ja kein Hund, hierin hatte mein Papa Recht. Ein Känguru reagiert auf andere akustische Signale. So gebrauchte ich bei Dora zum Beispiel den Ruf „Hallo, da bin ich!“ oder „Haha“ oder oft auch nur Summtöne. Dies genügte bereits, dass sich sowohl bei Dora als auch den anderen Kängurus die Ohrmuscheln deutlich nach vorn, in meine Richtung drehten. Doch blieb bei den übrigen Tieren eine Folgereaktion praktisch aus. Trudi zum Beispiel bewegte sich selbst auf mehrmaligen Anruf hin überhaupt nicht, obwohl sie nur wenige Meter vom Gitter des Aussengeheges und damit von meiner Position entfernt stand.

      Dora dagegen verhielt sich völlig anders. Sie war zu jener Zeit eine kräftige, imposante Kängurufrau, die die Herrschaft über ihre Gruppe innehatte. Überraschenderweise war sie stets die einzige, die verblüffend prompt meinem Ruf folgte, sogar wenn dieser aus einer Entfernung von mehr als fünf Metern erfolgte. Häufig brauchte ich sie aber gar nicht erst zu rufen. Sobald sie meiner gewahr wurde, kam sie sofort auf mich zu, als erkenne sie mich.

      Einmal ereignete sich etwas völlig Unerwartetes. Es war in einem kalten Winter, als ich das Antilopenhaus betrat. Vor dem Gitter hatte sich eine so dichte Menschentraube gebildet, dass mir nur eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Kängurus blieb. Doch bald schon hatte Dora ihren aufmerksamen Blick auf mich fixiert. Aufgeregt bat ich einige Leute, etwas beiseite zu treten, um ans Gitter zu gelangen. Wie überrascht und entzückt war ich, als Dora mir schnurstracks entgegen kam! Wie hatte sie mein Gesicht unter den vielen anderen so rasch identifiziert? Oder war es nicht nur das Gesicht, das ihr als Merkmal diente? Jedenfalls war keines der anderen Kängurus dazu willens oder in der Lage. Doras Fähigkeiten gingen aber noch weiter. So vermochte sie mich im Aussengehege selbst aus einer Entfernung von zehn bis zwanzig Metern unter den Zoobesuchern zu erkennen, um dann meine Bewegungen auf dem Besucherweg genau zu verfolgen!

      Mir lag sehr viel daran mich zu vergewissern, dass Dora nicht nur wegen jener „Liebe, die durch den Magen geht“ so anhänglich war. Deshalb hatte ich selten Futter für sie dabei. Ich stellte fest, dass Dora kam, wenn sie wollte. Denn manchmal kam sie auch nicht, auch wenn sie in meinen Händen leckere Bananenstückchen entdeckte. Zweifellos war bei ihr ein echtes Bedürfnis nach einem persönlichen Kontakt mit mir vorhanden.

      Während des Fressens oder der Körperpflege war es mir dagegen niemals möglich, Dora zu mir zu locken, desgleichen wenn sie ruhte oder sich der mütterlichen Fürsorge widmete. Doch war es völlig normal, dass sie sich bei ihren natürlichen Aktivitäten nicht stören liess. Dennoch schien Dora meine Anwesenheit genau zu registrieren, was sich daran zeigte, dass sie mich nach Beendigung ihrer „Pflichten“ aufsuchte. Auch machte sie stets eine „Extrakurve“, um bei mir vorbeizukommen, sobald sie sich vom Futtertrog zum Strohlager oder in umgekehrter Richtung bewegte. Lagen Hindernisse auf diesem Weg, etwa dicke Zweige, so kam sie um diese herum zu mir. Selbst die Anwesenheit vieler anderer Tiere zwischen uns hinderte Dora nicht, sich bis zu mir durch zu drängeln!

      Mein allerschönstes Erlebnis mit ihr habe ich in einem Protokoll festgehalten:

      „Einmal stand Dora im Stall gut vier Meter von mir entfernt, den Rücken mir zugewandt, putzte sich und schaute zwischendurch über ihre Schulter zu mir. Ich glaubte, es würde eine Weile dauern, bis sie zu mir käme. Also schaute ich in eine andere Richtung. Plötzlich spürte ich eine Berührung an meinem Rücken. Erschrocken fuhr ich zusammen und sah mich um. Da stand Dora, die sich mir unbemerkt genähert hatte und mich mit der Schnauzenspitze stupste!“

      Es war für mich wunderbar zu erleben, wie Dora in den Jahren 1963/64 ihr letztgeborenes Junges aufzog: Fast jedes Mal nach der Beutelreinigung kam sie zu mir, ohne dass ich sie rief!

      Meine „Unterhaltungen“ mit Dora dauerten im allgemeinen zwischen zehn und zwanzig Minuten. „Zeremonieller“ Höhepunkt unserer Begrüssung war der Nasenkontakt, bei dem wir eine Zeitlang unseren Atem austauschten. Dies entspricht genau dem känguruspezifischen Verhalten, nur dass bei ihnen die Geruchserkennung einer umfassenden informativen Vergewisserung dient, wie zum Beispiel bei der Bewältigung von Konflikten. Für mich dagegen bedeutete dieser intime und würdevolle Akt der Annäherung eine Bestätigung meiner starken seelischen Bindung an diese Wesen, die wir Kängurus nennen. Im übrigen erlaubte mir Dora nicht nur das Streicheln ihres Körpers, sondern auch das Befühlen des leeren Beutelinneren. So lernte ich dessen innere Form und Temperatur kennen.*

      Was das Streicheln oder Kraulen betraf, so war Dora durchaus anspruchsvoll. Unterbrach ich es auch nur für Sekunden, suchte Dora meine Hände und stupste sie an, um mich zum Weitermachen zu animieren.

      Nachdem ich wegen der Gefahren, die von den neuen angriffslustigen Männchen ausgingen, gut fünfzehn Jahre auf das Betreten des Kängurugeheges hatte verzichten müssen, wuchs in mir das brennende Verlangen, meine Beziehung zu Dora ohne ein trennendes Gitter zu erneuern. Nach Abklärungen mit Professor Lang, der nun Zoodirektor in Basel war, durfte ich es dann endlich wagen. Doch auf mich wartete eine gewaltige Enttäuschung! Dora verhielt sich mir gegenüber innerhalb des Geheges als kenne sie mich nicht mehr. Nicht einen einzigen Schritt tat sie in meine Richtung. Ich schien ihr fremd. Doch nachdem ich mich wieder vor das Gitter begeben hatte, kehrte etwas von unserer ursprünglichen Vertrautheit zurück. Ich hatte den Eindruck, als fühle sich Dora mir nur dann nahe, wenn uns die Absperrung voneinander trennte. Es ist möglich, dass sie unsere früheren „gitterlosen“ Begegnungen einfach vergessen hatte.

      Eine wohltuende Abkühlung

      Einmal erlebte ich etwas sehr Seltsames, ausgelöst durch das Bedürfnis der Kängurus nach Abkühlung. Es ist eine Eigenart dieser Tiere, sich die Vorderarme und Unterschenkel, manchmal auch die untere Bauchseite, einzuspeicheln. Dies dient der Abkühlung bei grosser Hitze, starker Erregung zur Paarungszeit und bei Konflikten. Es ist klar zu unterscheiden zwischen Körperpflege und Abkühlung. Bei ersterer wird das Fell mit den Zähnen „gekämmt“, beziehungsweise beknabbert, im zweiten Fall werden die Gliedmassen mit oder ohne Zungenbewegungen bei starkem Speichelfluss tüchtig befeuchtet.**

      Es war an einem sehr heissen und schwülen Juni-Nachmittag, als etliche Tiere, von ihren Paarungsspielen erhitzt, mit dem Einspeicheln begannen. Diejenigen, die im Schatten der Bäume lagerten, beteiligten sich nicht daran. Gut eine halbe Stunde später, nachdem alle wieder im Stall waren, kam Dora zu mir und trank Wasser aus einem Kübel, der am Ende des Gitters stand. Danach begrüssten wir uns per Nasenkontakt… ja, und dann fing sie an, meine rechte Hand solange zu belecken und mit Speichel zu bedecken, bis diese völlig nass war!

      Beim Abendessen erzählte ich voller Stolz von diesem erstaunlichen Vertrauensbeweis, worauf mein Papa mich fröhlich fragte, ob ich nicht lieber meine Arme in der Badewanne unter den Wasserhahn halten wolle…

      Noch heute geht mir die Frage nach, wieso Dora mich damals „abkühlte.“ War es ein Akt der Freundschaft? Oder vielleicht sogar eine Art Gegenleistung für das Streicheln und Kraulen ihres Felles?

      Bei der üblichen Körperpflege der Kängurus, hauptsächlich der zwischen Müttern und ihren halbgrossen Jungen, ist oft zu beobachten, wie sie einander das Fell beknabbern oder belecken, eine Prozedur, die zwischen erwachsenen Tieren dagegen höchst selten stattfindet. Bei all meinen Beobachtungen konnte ich aber nicht ein einziges Mal feststellen,