Doris Herrmann

Känguruherz


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Ich entdecke die Kängurus – oder entdeckensie mich?

      Viel Blau und Grün und immer wieder Düfte!

      Ein mit dünnen Wolkenstreifen überzogener zartblauer Himmel leuchtet über den ziegelroten Dächern der Rheinstadt. Ich bin knapp drei Jahre, habe mein Bett verlassen und stehe, nur mit Hemd und Hose bekleidet, an der halboffenen Balkontür. Ein kühler Luftzug streift mich. Ich spüre den kommenden sonnenreichen und schönen Tag. Ich laufe ins Badezimmer. Dort recke, strecke und drehe ich mich voller Lebensfreude. Dabei betrachte und befühle ich meinen Körper und streiche mir mit der Hand durch meine krausen Haare.

      Plötzlich steht meine Mama vor mir, lacht mich liebevoll an und streichelt meinen Kopf. Erstaunt und verblüfft betrachte ich sie in ihrer völligen Nacktheit und werde mir meiner eigenen kleinen, flachen Brust mit den zwei winzigen rosa Punkten gewahr – ich habe mich selber entdeckt!

      Dies sind die ersten, bewusst aufgenommenen Bilder, an die ich mich erinnere. Des weiteren erinnere ich mich an viele Spaziergänge, die ich an der Hand meiner Mutter oder eines Kindermädchens durch hüglige Landschaften unternahm, bis meine Beine so müde waren, dass ich im Kinderwagen gefahren werden musste.

      Meine ersten intensiven von Farben, Düften und Formen erfüllten Eindrücke bewirkten, dass ich eines Nachts träumte, wie und woher ich in dieses „plötzliche“ Dasein gekommen war: Körperlos schwebe ich über herrlich grüne Wiesen und Wälder unter einer wärmenden Sonne und einem blauen Himmel, nichts als ein reines, empfangendes Fühlen!

      Es ist dies ein unvergesslicher Traum aus meiner Kindheit, an den ich mich noch heute oft erinnere, wenn ich mich gedanklich mit dem Leben und dem Tod beschäftige.

      Die Suche nach dem zweibeinigen Tier

      Dagegen erinnere ich mich nur flüchtig, wie ich mit den Nachbarskindern in unserem grossen Hinterhof spielte. Dass eine Ursache unserer mitunter heftigen Streitereien meine Gehörlosigkeit war, ahnte ich damals noch nicht. Dieses Handicap bewirkte jedoch, dass die Kommunikation zwischen mir und den Anderen zeitweilig völlig gestört war. Oft rissen mir die Kinder mit Gewalt Schaufel oder Sandform aus den Händen, was mich sehr wütend machte, denn ich liebte es nicht, meine leeren Hände anschauen zu müssen. So fühlte ich mich ständig von ihnen ausgestossen. Ich sass dann unbeteiligt da, stumm, manchmal weinend, ohne zu protestieren, da ich mich gegen die Übermacht nicht zu wehren wusste. Zudem machten mir die boshaften Gesichter Angst. Brachten mich meine Mutter oder das Dienstmädchen dann fort, so lief ich schnurstracks zurück zu den Kindern, weil mir ihre Gesellschaft lieber war, trotz der häufigen Zurückweisungen, die ich erfuhr. Erst im Alter von etwa neun Jahren wurde ich mir meiner Taubheit völlig bewusst.

      Bereits im frühen Kindesalter war ich oft umgeben von den Hunden und Katzen aus unserer Nachbarschaft. Aber auch bei Verwandten oder in der Umgebung unseres Ferienchalets suchte ich ihre Nähe und war bald mit ihnen vertraut. Dies galt auch für die anderen Tiere, denen ich im nahe gelegenen Zoologischen Garten begegnete. Sehr bald wurde mir klar, dass alle Geschöpfe, die ein Fell, einen Schwanz, hochstehende Ohrmuscheln und eine Schnauze haben und auf allen Vieren laufen oder springen, Säugetiere sind. Und dass jene, die auf zwei Beinen watscheln oder rennen und beim Auffliegen die Flügel ausbreiten, Federkleid und Schnabel haben, zu den Vögeln gehören. Und dass schliesslich die, welche auf zwei Beinen aufrecht laufen, Kleidung tragen, kein Fell, dafür aber lange Kopfhaare besitzen, die Menschen sind.

      Bald schon hatte ich soviel Zutrauen zu den Tieren gewonnen, dass sie für mich mit das Wichtigste wurden in einer Welt lebendiger Wesen. Insgeheim entstand in mir der Wunsch, unter den Säugetieren auch solche zu finden, die auf zwei Beinen stehen und laufen und die mir die so ersehnten Gespielen sein konnten. Dies lag gewiss daran, dass ich die Tiere als friedliche Wesen empfand, ganz im Gegensatz zu den Menschen.

      An meine erste Begegnung mit den Kängurus erinnere ich mich nur verschwommen. Doch dieses Wenige hat sich mir stark eingeprägt.

      Ich muss wohl etwa drei Jahre alt gewesen sein, als ich bei einem meiner Zoobesuche plötzlich wie angewurzelt am Kängurugehege stehen blieb: Atemlos betrachtete ich die hoch aufgerichteten Tiergestalten jenseits der Gitterstäbe. An Grösse überragten sie mich bei weitem, ihre „Hände“ baumelten lässig über ihren Bäuchen und sie standen auf zwei Beinen! Ich war begeistert! Ihren dicken Schwanz, die Abwinklung der Beine und den Beutel hatte mein kindliches Auge noch nicht erfasst.*

      Bis mein Empfinden und mein Verständnis für diese Tiere richtig erwacht waren, sollten aber noch etliche Jahre vergehen. Zunächst gab es noch eine Überfülle anderer schöner und wichtiger Gegenstände und Erlebnisse, an denen ich mich lernend ausprobieren und wachsen konnte und die für meine Entwicklung im Vordergrund standen.

      In meinem Kinderzimmer fanden sich viele Puppen und Plüschtiere, ein Hund, ein Bär, eine Giraffe u. a. Was fehlte, war ein Känguru! Hatte denn niemand, weder Mutter, Vater noch die Verwandten meine ,Entdeckung‘ im Basler Zoo bemerkt?! Oder waren jene für mich sensationellen Empfindungen für sie unsichtbar? Hatte ich denn keinerlei Emotion gezeigt?

      Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass, hätte ich damals bereits einen diesen seltsamen „Zweibeiner“ als Stofftier besessen, meine Liebe zu diesen Tieren gewiss nicht nur wach geblieben, sondern sich vermutlich noch verstärkt hätte. Bestimmt wäre ein Stoffkänguru fortan zu meinem unzertrennlichen Lebensgefährten geworden, den ich überall mit mir genommen hätte. Die mir zugedachten vierbeinigen Spielgefährten, die mir ohnehin plump und hässlich erschienen, hätte ich dann gewiss gänzlich links liegen lassen.

      Gespürte Laute

      Ich erinnere mich, dass ich trotz meines fehlenden Gehörsinns bereits in den ersten Lebensjahren sehr lärmempfindlich war. Lange wussten meine Eltern nicht, warum ich mit Wimmern auf das laut gestellte Radio reagierte. – Als ich drei Jahre alt war, nahm man mich mit auf die Basler Herbstmesse. Mama dachte, ich könnte an dem bunten Treiben dort ebensolche Freude haben wie die anderen Kinder. Stattdessen verursachte das intensive Durcheinander der Erschütterungen von Karussells, Schiessbuden, dröhnenden Musiken, Gepolter und Getrampel in mir Angst und Unruhe. Von alledem ahnte Mama nichts. Weinte oder wimmerte ich, rüttelte sie mich nur an der Hand.

      Heute fragen mich oft erstaunt die Leute, ob ich denn richtig hören könne, bis ich ihnen erkläre, dass mir, anstelle der Ohren mein gesamter Körper als Sinnesorgan zum „Hören“ zur Verfügung steht. Dank meines fein entwickelten Fühlens und einer höheren Empfindsamkeit an der Hautoberfläche, bin ich imstande, verschiedene Arten von Vibrationen, wie Gewitterdonner, das Rütteln oder leise Zittern von Motoren, Schritte auf Holzboden und das Klopfen anderer Personen an Türen oder Wände wahrzunehmen. Selbst das Lärmen meiner Nachbarn und deren Musik, sehr laut geführte Gespräche und Hundegebell entgehen mir nicht. Geräusche im unteren bis mittleren Frequenzbereich, die merkliche Schwingungen der Luft, des Bodens, des Tisches und anderer Gegenstände auslösen, mit denen ich gerade direkten Kontakt habe, dringen zwar nicht an meine Ohren, gehen dafür aber durch meinen ganzen Körper. Sie durchlaufen mich vom Kopf bis zu den Füssen oder umgekehrt, und auf diese Weise nehme ich sie wahr. Sehr heftige oder krachende Töne dringen dagegen bis in mein inneres Ohr. Die Trommeln der so genannten Guggemusik bei der Basler Fasnacht, eine Fahrt durch einen Eisenbahntunnel oder das Gebrüll einer Flugzeugturbine sind mir unerträglich. Dagegen liegen Geräusche oder Klänge in den höheren Frequenzen, wie Zischen oder Geigenspiel, für mich im Bereich des nicht Wahrnehmbaren.

      Namenlose Dinge, die sich bewegen

      Ich denke zurück an mein viertes Lebensjahr, als mir eine Verständigung in der Lautsprache noch nicht möglich war. Die vermutlich einzigen „Worte“, die ich beherrschte, waren die Gebärden für „ja“und für „nein“. Ansonsten wiesen Mama oder das Dienstmädchen auf die jeweiligen Gegenstände. Lehnte ich etwas ab, schüttelte ich den Kopf. Wollte ich etwas haben, nickte ich oder griff danach. Mein Ausdruck bei Unwohlsein war jederzeit für jedermann leicht zu deuten, doch Gemütsbewegungen, wie Angst oder Unzufriedenheit, konnte ich mit Gebärden kaum wiedergeben. Entdeckte ich Objekte aus Holz, Metall, Glas oder Gummi, die sich durch ihren mechanischen Antrieb wie von selber zu bewegen schienen, war es mir unmöglich nach dem Warum und Wieso zu fragen. So klärte mich eben auch niemand über