Doris Herrmann

Känguruherz


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böse.“ – „Die Giraffe hat einen langen Hals.“ – „Das Zebra hat Streifen…“

      Tante bemühte sich sehr, mir die Gestalt des jeweiligen Tieres zu erklären. Sie griff ans Rockband, dehnte es aus und fuhr mit einer Hand hinein, um mir die Bauchtaschen der Kängurus begreiflicher zu machen. Aber dass diese Tiere ihre Jungen im Beutel tragen, war für mich noch nicht zu verstehen. Mir fehlte einfach das entsprechende Interesse.

      Umso mehr zog es mich zu den grossen Affen, vor allem den Schimpansen. Dabei bemerkte ich bald, dass die Primaten wie die Menschen auf zwei Beinen gingen und keinen Schwanz hatten. Gespannt verfolgte ich, wie sie brav am Tisch ihre Suppe löffelten und geschickt mit dem Roller fuhren. Als ich am nächsten Tag die Tiere zu Hause zeichnen sollte, konnte ich mich nur schwer an ihre exakten Formen erinnern und bildete sie nicht als Affen, sondern als plumpe schwanzlose Hunde ab, die auf vier Beinen gingen. Der mächtige Rumpf mit dem tiefsitzenden Kopf und den überlangen Armen boten für mich keinen Reiz, diese Tiere als Gespielen zu empfinden.

      Eines Tages, ich war etwa neun, besuchte ich mit meiner Familie ein Basler Cafe, das sich inmitten eines Tropariums befand. Der halbdunkle Raum war angefüllt mit Trophäen verschiedener afrikanischer Tiere. An den Wänden gab es Aquarien und Terrarien mit exotischen Fischen, Schlangen und sogar Krokodilen. Während ich mir die feine Torte schmecken liess, hatte ich stets ein Auge auf die Fische, deren Verhalten mir auffällig und seltsam erschien. Immer wieder kam es vor – und dies in allen Aquarien –, dass sich drei Fische zusammenfanden, um, mit ihren Köpfen zum Mittelpunkt gewandt, eine perfekte Sternformation miteinander zu bilden.

      Am nächsten Tag zeichnete ich die seltsamen Sterne mit drei dikken, drei dünnen und drei langen Fischen. Dieses Phänomen beschäftigte mich und ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, da ich es nie wieder danach in irgendeinem öffentlichen oder privaten Aquarium habe beobachten können.

      Wo wächst ein Kindlein?

      Bei meinen Aufenthalten auf dem Lande entdeckte ich viel Neues und Schönes, auch, wie aus den Eutern der Kühe Milch gemolken wurde, was ich als Kleinkind nicht begriffen hatte. Später durfte ich dabei sein, wie eine Mutter ihr Kind stillte, und ich konnte es kaum fassen, dass es tatsächlich Milch war, die da aus der Brust floss.

      Wie alle Kinder meines Alters beschäftigte mich natürlich die Frage „Woher kommen die Babys?“, mit der ich Tante immer wieder lombardierte.‘ Worauf ich von ihr auch die immer gleichen Antworten erhielt: „Vom lieben Gott“ oder „durch ein Wunder vom lieben Gott“ oder „als grosses Wunder, es ist ein Geheimnis“. Das befriedigte meinen Wissensdrang jedoch keineswegs. So fragte ich mich, wie und wo wächst das Kindlein? Vielleicht in den Wolken oder irgendwo an einem streng verborgenen Ort, unter Obhut des lieben Gottes, bevor es schliesslich herunterkommt und seine Eltern mit seinem plötzlichen Dasein überrascht?

      Als Topi, der Zwergpudel, uns eines Morgens seine frisch geworfenen Welpen präsentierte, bestand für mich das eigentliche Rätsel darin, wie diese lieben, kleinen Jungen durch das Fenster gekommen waren?! Und es warf die Frage auf, ob es wirklich der liebe Gott oder sonst irgendein himmlisches Wesen war, das auch die Eier in die Vogelnester in den Wäldern und Fluren und sogar in das Nest unserer Kanarienvögel legte?

      Eines Nachts träumte ich dann, dass auch die Menschenbabys in etwa fünfzehn Zentimeter langen, quaderförmigen ,Eiern‘ heranwuchsen…!

      Einmal, als Tante mir eine Geschichte über Meisen vorgelesen und dabei ausführlich alles vom Nestbau bis zum Flüggewerden der Jungvögel erklärt hatte, platzte ich hochbeglückt heraus: „Nicht wahr, Tante, du hast früher auch zwei Eier ausgebrütet, solange bis Peter und ich ausgeschlüpft waren!“ Das ständige Zusammenleben mit ihr auch ausserhalb der Schulstunden hatte mich nämlich zu der Überzeugung gebracht, dass sie meine eigentliche Mutter sein müsse. Erst mit 10 Jahren wusste ich, unter wessen Herzen ich wirklich gewachsen war.

      So gross ist die Welt

      Zum achten Geburtstag bekam ich von Tante eine Pflanzenpressmappe. Nach einem langen, kalten Winter sah ich mit Freuden den Frühling nahen und konnte es kaum erwarten, bis sich in unserer waldreichen Umgebung herrliche Blumenteppiche ausbreiteten. Mit Eifer und Begeisterung gingen Tante und ich daran, die Pflanzen zu pressen und ihre Namen kennen zu lernen. Tante kaufte ein Pflanzenbestimmungsbuch und versuchte mit mir, die uns unbekannten Arten zu identifizieren. Diese Stunden zählten für mich zu den schönsten, da sie mich auf anschauliche und praktische Weise mit dem Leben in der Natur vertraut machten.

      Wie und wo alles wuchs, wie aus Keimlingen zuerst zarte Wurzeln nach unten und dann feine Triebe nach oben sprossen und sich beim grösser Werden in blüten- und früchtetragende Pflanzen verwandelten, all das faszinierte mich sehr. Auch weshalb beispielsweise die Bienen über die weisse Blütenpracht der Obstbäume summten, machten mir Tantes eingehende Erläuterungen und ihre klaren Kreidezeichnungen an der Wandtafel verständlich.

      Zum Thema ,Masse und Gewichte’ erteilte mir Tante eine spannende Unterrichtsstunde. Sie bastelte einen Massstab von einem Meter Länge und schritt mit diesem einen langen Wiesenpfad zwischen zwei Wäldchen ab. Ich half ihr beim Ausmessen und Zählen. Es war nicht ganz leicht, die Zahlen im Kopf zu behalten. Am Schluss waren wir stolz auf unsere gelungene Arbeit. Ich staunte sehr, dass wir die grosse Distanz selber hatten messen können. Ein anderes Mal wagten wir es mit einem zehn Meter langen Seil auf einer geraden Strasse. Ich hielt das eine Ende fest und Tante ging mit dem andern voran, bis das Seil straff war; dann drückte sie ihr Ende auf den Boden, und ich ging nun an ihr vorbei und tat dasselbe. So wechselten wir uns ab und zählten: zehn, zwanzig, dreissig, … hundert, hundertzehn, hundertzwanzig, … Einen ganzen Kilometer vermassen wir auf diese Weise, eine Länge, die mir damals ungeheuerlich vorkam.

      Als Kind hatte ich die Vorstellung, die Welt sei flach und unendlich weit, der blaue Himmel eine Decke darüber, bestückt mit Mond und Sternen. Als Tante mir das Märchen von Frau Holle vorlas, glaubte ich, viele Kilometer unter der Erde sei noch eine Art Erdgeschoss mit einer herrlich grünen Landschaft und einem ähnlich blauen Himmel wie der unsere. Die Sonne wandere während des Tages über den Himmel und krieche dann abends durch einen riesigen Schacht hinunter ins Untergeschoss, von wo sie am Morgen durch einen zweiten Schacht auf der anderen Seite der Welt wieder hervorkomme.

      Obschon ich unseren grossen Atlas immer wieder genüsslich betrachtete, anfänglich nur wegen der Farben, mit denen die Länder koloriert waren, dann, um überall nach der winzigen Schweiz zu suchen, wusste ich doch nichts von einer Kugelform unserer Welt, da wir zu Hause keinen Globus besassen. Und so bescherte mir die erste Bibelstunde bei Tante eine schlaflose Nacht, denn meine Vorstellungen waren so fest mit einer endlosen, flächigen Welt verknüpft, dass es mich schauderte, als ich von der unheimlichen Finsternis hörte, jener pechschwarzen Tiefe, in der es keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne gab und die der Erschaffung der Erde vorausging.

      Die Geschichte über das Paradies hingegen faszinierte mich bis zum Sündenfall. Dieser erschütterte mich, weil in meiner Phantasie das vertriebene Menschenpaar viele Kilometer durch die Einöde ziehen musste, die aus Sand, Steinen und Geröll bestand. Besorgt erkundigte ich mich bei Tante, wie denn Adam und Eva das Paradies verlassen hatten. „Sie sind zu Fuss gegangen!“ lautete ihre kurze und bündige Antwort.

      Eines Abends inszenierte ich ein Schauspiel über „die Erschaffung der Welt“. Zuschauer waren die Familie, meine Grosseltern und unsere Hausangestellten. Die Schiebetüren dienten als Vorhang, der Salon wurde zur Bühne, über die die Dunkelheit vor der Schöpfung hereinbrach. Ich, als „lieber Gott“, knipste alle Lampen an, stellte die Zimmerpflanzen auf den Boden, dazwischen die Tiere aus Stoff oder Porzellan. Zuletzt platzierte ich einen schönen Apfel auf dem Gummibaum. Dann verschwand ich hinter dem Ohrensessel. Meine Mutter nahm auf mein Geheiss den Apfel, biss hinein und fühlte grosse Scham, bis ich „zürnend“ zum Vorschein kam und sie „vertrieb“…

      Wie sieht so ein Känguru aus?

      An verregneten Sonntagen sass ich oft mit meinen Kinderbüchern auf dem Sofa und schaute mir die Bilder an. Dabei waren es vor allem populäre Abenteuerbücher, die meine Kinderwelt eroberten. Ihnen verdanke ich es wohl, dass die Kängurus mit ihrem dicken Schwanz, dem Beutel und den kurzen Armen, die häufig darin vorkamen,