Doris Herrmann

Känguruherz


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den Pfadfindern

      Eines Nachmittags besuchte ich zum ersten Mal mit Tante das historische Museum in Basel. Dort besichtigten wir den grossen Rittersaal, und Tante erklärte mir: „Schau, das sind die bösen Soldaten in ihren schweren Eisenanzügen; den Harnischen, die sie vor Hieben, Stichen und Schlägen schützten! Da, an den Wänden hängen die scharfen und spitzen Hellebarden, Morgensterne, Dolche, Degen, Armbrüste und Schutzschilder! Und dort stehen die Kanonen mit ihren schwarzen Kugeln zum Beschiessen der Häuser! Schau nur, die grossen Bilder der Kriege und der Schlachten!“

      Mir wurden die vielen Requisiten und Darstellungen vom Schlagen, Töten und Blutvergiessen zu viel, und ich brauchte etliche Tage, um all dies irgendwie zu verarbeiten.

      Einige Wochen später. An einem prächtigen Frühlingstag machten Tante und ich einen grossen Spaziergang. Dabei gingen wir von Haus zu Haus und läuteten, denn Tante sammelte Geld für das Rote Kreuz. Ich verfolgte ihre Tätigkeit sehr aufmerksam und fragte sie, um was es ginge. Sie begann lange, ausführlich und sehr vereinfacht über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, jedoch ohne die Hintergründe zu erwähnen.

      „Heute ist überall Krieg, nur nicht in der Schweiz. Die bösen deutschen Soldaten sind in viele Länder einmarschiert und machen mit ihren Kanonen viele, viele Häuser kaputt, schiessen oder schlagen viele Menschen tot. Viele Menschen und Kinder haben keine Häuser mehr, sind arm und haben zerrissene Kleider und Schuhe. Das ist sehr, sehr traurig. Wir müssen für die armen Menschen viel, viel Geld sammeln, damit sie wieder Häuser, Kleider und Essen bekommen können.“

      „Haben die deutschen Soldaten auch Harnische an?“ fragte ich sofort. „Nein, es gibt keine Harnische mehr, sie sind viel zu schwer zum Tragen!“ sagte Tante ein wenig lächelnd.

      Von diesem Tag an gehörte der Krieg zu meiner Welt, so dass ich plötzlich das Gefühl hatte, während des Krieges geboren worden zu sein. Noch wusste ich nicht, wann der Krieg begonnen hatte und glaubte, er werde niemals mehr aufhören. Die grauenvollen Bilder in den Zeitungen und die Erklärungen, die Tante mir gab, erschütterten mich zutiefst. Bei Tischgesprächen mündeten viele Fragen in die immerwährende Antwort: „Krieg, Krieg…“

      Die militärischen Paraden, Märsche, Marschmusik und die einheitliche Bekleidung der Schweizer Soldaten faszinierten mich so sehr, dass ich oft davon träumte, selber in schmucker Uniform loszuziehen. Bei Ausflügen band ich mir jedes Mal das Kopftuch um Schultern und Taille, genau so, wie ich es bei den Soldaten mit ihren zusammengerollten Pelerinen gesehen hatte.

      Gerade zehnjährig, entdeckte ich, dass auch Kinder uniformiert anzutreffen waren. Es waren Buben in khakifarbenen Hemden und Mädchen in blauen Blusen, beide mit cowboyartigen Hüten und farbenfrohen Krawatten. Von ihnen sprach ich nun jeden Tag, war es doch mein grösstes Verlangen, ihnen auch anzugehören.

      Im Frühjahr 1944 trat ich glücklich und stolz der Pfadfinderinnen-Gruppe* „TROTZ ALLEM“, einer Sonderabteilung für Behinderte, bei. Schon während der Woche freute ich mich auf unsere Übungen am Samstagnachmittag, die in einem Lokal in Basel oder im Wald stattfanden. Dabei war mir der Gruss, ein Handzeichen am Hut, mit dem die Pfadfinder einander begrüssten, besonders wichtig. Ich lernte Spurenlesen, Feuer machen, Suppe kochen, sowie allerlei Spiele.

      In unserem ersten Sommerlager ging mir der Anblick behinderter Pfadfinderinnen in Rollstühlen, mit Beinschienen und an Krücken, aber auch der der Blinden sehr zu Herzen, obgleich ich selbst zu ihnen gehörte. Anfangs glaubte ich, den anderen Pfadfinderinnen gegenüber nicht Fröhlichkeit, sondern frommes Mitleid zeigen zu müssen. So verschwand ich bei einem heiteren Spielabend unbemerkt aus dem Saal, verkleidete mich im Schlafraum und kehrte mit einem Heiligenschein aus einer gelben Pfadikrawatte als „Engel“ wieder zurück. Dann pflanzte ich mich direkt vor der grossen Schar auf, faltete die Hände und sprach in schwer verständlichen Worten ein Gebet für die Heilung aller ihrer Gebrechen! Ich stellte mir dabei vor, die Anwesenden würden sich nach meiner innigen Fürsprache wieder normal, ganz ohne Krücken, Beinschienen und Rollstühle, bewegen. Die Reaktion allerdings verblüffte mich, denn fast alle zeigten sich sehr erheitert! Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, dass die meisten Behinderungen ein Leben lang unheilbar bleiben.

      Vom ersten Augenblick an fühlte ich mich im Pfadfinder-Lager wie zuhause. Dies lag vor allem an der liebevollen Betreuung durch die Führerinnen und wohl auch an der etwas weniger strengen Erziehung, als ich sie vom Elternhaus her gewohnt war.

      Hier ein von meiner Führerin leicht korrigierter Brief an meine Mama, der zeigt, welche Fortschritte im sprachlichen Ausdruck meinem neu errungenen Lebensgefühl zu danken waren:

      „Liebe Mama,

      ich danke vielmals für den Brief und das Paket. Viele Pfadfinderinnen haben eine blauen Pfadikleid. Ich muss es auch brauchen. Willst du ein Pfadikleid in Albanvorstadt 36 kaufen. Ich will Peter lieben, hüte Peter. Peter soll nicht tot werden und darf nicht über das Fenster bücken. Warst du auch schon in der Badeanstalt? Ich habe zu wenig Fehler, ich darf die Uniform behalten. Ich will immer gute Laune, gehorsam, Wort wahrsein. Ich muss nicht lügen. Wenn ich schreie, muss ich Angst haben. Ich bin glücklich. Ich kann schön schreiben und langsam sprechen. Sprache von Note 1–2 und schreiben 1–2. Ich bin immer dem ganzen Tag folgsam und sparsam. Alle Pfadi sparen heissen Wasser. Die Führerin dankt für Sparsam „merci“. Ich habe einen Pfadinamen bekommen. Er heisst: Bienli. Es ist schön in Adelboden. Wir haben Blumengeschenklein bekommen von Tante. OO, sagten manche Pfadi.

      Viele liebe Grüsse von

      Deine „Bienli“

      Als Absender hatte ich anstelle meines Namens und der Lageradresse eine kleine Zeichnung gesetzt, die mich auf einer Panzersperre aus Beton zeigte. Viele Reihen dieser Panzersperren standen während des Krieges überall entlang der Schweizer Grenze, um Übertritte der Deutschen zu verhindern. Diese Gebilde besassen für mich etwas sehr Imponierendes, so dass auf ihnen zu stehen auch bedeutete, sich selber als eine gute und tapfere Pfadfinderin darzustellen.

      Zehn Jahre blieb ich bei dieser Behinderten-Gruppe. Ich arbeitete mich nach oben, bis ich nach diversen bestandenen Prüfungen, die ihren sichtbaren Ausdruck in einer mit vielen Abzeichen bestückten blauen Bluse fanden, zuletzt Gruppenleiterin wurde.

      Es war eine schöne Zeit. Viele Male erlebte ich Lager in den Bergen, einmal sogar in Holland am Meer. Wir kampierten wiederholt in romantischen Zelten und erlebten so manches Abenteuer. Weitere fünf Jahre war ich als einzige Behinderte treues Mitglied der nicht behinderten „Rangers“, einem der höheren Ränge, bei denen ich völlig akzeptiert wurde und einige ihrer Übungen auch selber leiten durfte.

      Im Winter 1944/45 wuchs die Kriegsgefahr erneut. Fast jede Nacht konnten wir die Blitze des Gefechtsfeuers erblicken, die den Horizont erhellten. Tagsüber sah man ab und an aufsteigende Rauchwolken, die den Bombardierungen folgten. Es waren schwere Kämpfe, bei denen die Alliierten die Deutschen gewaltsam aus dem Elsass vertrieben und anschliessend in Deutschland einmarschierten. Die unheimlichen, vom Dröhnen der Bombengeschwader und den Explosionen beherrschten Nächte raubten uns allen den Schlaf. Wenn ich weinte, kam Tante zu mir herüber und beruhigte mich: „Die Guten vertreiben jetzt die bösen Deutschen ins Feuer.“

      Aus Furcht vor Bombenangriffen war im grenznahen Gebiet des Nachts strenge Verdunklung angeordnet. In unserem Korridor und in der Toilette gab es aber keine Rollläden. So behalf man sich in der Dunkelheit mit dem Abdecken der Lampen oder mit blauen Glühbirnen. Dies löste jedoch bei mir solche Ängste aus, dass ich mich eine Zeitlang kaum mehr aufs „Örtchen“ traute.

      Im Mai 1945 – wir sassen gerade beim Frühstück – sagte Mama: „Heute oder morgen wird der Krieg vorbei sein.“

      Am folgenden Nachmittag fuhren Tante, Peter und ich mit dem Tram bis zur nahen Grenze, um die Endphase des Geschehens zu verfolgen. Doch es war nichts zu sehen. Es war ein prächtiger, warmer Tag, die Obstbäume blühten, die Felder, an denen wir entlang spazierten, waren herrlich grün. Auf unserer Fahrt mit dem Tram sahen wir von den Fenstern aus, was in der Stadt Basel vorging: Flüchtlingsströme, Leute beim Verteilen von Sonderzeitungen oder grossen Flugblättern, lebhaft diskutierende Menschen und vieles mehr. Ich glaube mich zu erinnern, im Tram fröhliche und jubelnde Fahrgäste erblickt zu haben.