Doris Herrmann

Känguruherz


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blickte ich Tante an, ausserstande, das Ungewöhnliche dieses Geburtsvorgangs zu begreifen. Tante zeigte mir nun die Abbildung eines neugeborenen, fötusartigen Kängurus. Wochenlang beschäftigte mich dieses Wunder, denn als nichts Anderes erschien mir die Pflege durch die Kängurumutter.

      Ein ferner Kontinent taucht auf

      Ich fragte Tante nach dem Herkunftsland der Kängurus, worauf sie, ohne zu überlegen sagte, dies liege in Afrika. Doch beim nächsten Besuch im Naturhistorischen Museum entdeckte ich auf der geographischen Tafel als Heimatangabe eine grosse, scharlachrot markierte Insel, unter der ich las: Australien.

      An einem Sonntagmorgen vergnügte ich mich mit Papa am Frühstückstisch. Fröhlich lächelte ich ihn an. Er hob seine Augenbrauen und musterte mich, als ahne er, dass ich etwas im Schilde führte. Nach kurzem Zögern fasste ich mir ein Herz: „Wenn ich in Australien bin, packe ich die Kängurus, streichle sie und füttere sie mit Gras.“

      Mit zusammengezogenen Stirnfalten sah er mich an: „Du kannst die Kängurus niemals anfassen und streicheln. Sie sind sehr scheu und springen ganz schnell fort!“

      „Ich werde ihnen aber nachrennen, vielleicht kann ich sie fangen…“, entgegnete ich fest überzeugt.

      Eine Bekannte meiner Mutter, die bei uns zu Besuch weilte, erzählte, ihr Vater sei im Jahre 1900 in Australien gewesen, wo er mit dem Handel von Schafwolle zu tun hatte. Er sichtete damals eine grosse Herde Kängurus, die aber rasch verschwand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich durch die Lektüre von Abenteuergeschichten den Eindruck gewonnen, Kängurus seien menschenfreundliche und zutrauliche Tiere. Und nun das! Diese Neuigkeiten waren so fremd wie niederschmetternd für mich. Doch damit konnte und wollte ich mich nicht abfinden. Australien blieb mein Traumland, auch wenn eine nahe Begegnung mit den Kängurus nun in unerreichbare Ferne gerückt schien. Hinzu kam, dass die Reisekosten in den Nachkriegsjahren astronomisch hoch waren, so dass all dies vorerst eine schöne Phantasie bleiben musste. Also deponierte ich jeden Geldschein, den ich ersparte, auf der Bank.

      Bin ich selber ein Känguru?!

      Sommerferien in den Bergen. Tante und ich wanderten am Abbachfall vorbei und weiter hinauf. Während wir auf die schönen Alpwiesen hinunter blickten, fragte ich mich und dann auch Tante, ob ein Känguru wohl dort hinunterhüpfen könne. Lachend erklärte sie mir, dass es wohl in den Tod spränge, da es viel zu steil und zu weit sei. Dass solch eine Einschätzung durchaus trügerisch sein kann, habe ich Jahrzehnte später in Australien erlebt.

      Bei uns daheim ging es von der Haustür über eine ziemlich steile Treppe hinab bis zum Gartentor. Infolge meiner geburtsbedingten Gleichgewichtsprobleme war ich hier stets ängstlich und daher besonders vorsichtig, bis Tante eines Tages rief: „Doris, schau! Wie schnell die Kinder hinunter springen! Du machst es zu langsam! Hopp, hopp, geh mit und mach‘ es so wie sie…!“

      Ich sah, dass alle anderen tatsächlich lange vor mir unten angelangt waren. Da, mit einem Mal, fühlte ich den Stachel des Ehrgeizes in mir. Ich wollte und ich würde mit ihnen mithalten! Dadurch innerlich angespornt, begann ich den anderen Kindern nachzueifern. Bald schon gelang es mir, räumliche Hindernisse zu überwinden oder geschickt zu umgehen. Auch mein Tempo war bald so schnell wie das ihre. Beherzt und voller Übermut nahm auch ich nun mit känguruähnlichen Sätzen mehrere Stufen auf einmal den Hang hinunter oder hüpfte waghalsig auf dem Weg ins Dorf über einen kleinen Bach, ohne ins Wasser zu fallen. Sogar Sprünge von einer mehr als einen Meter hohen Mauer oder über die Heustocken während der Erntezeit waren kein Problem mehr für mich!

      Zu meinem Geburtstag schenkte mir Tante ein winziges, holzgeschnitztes Känguru. Ich war glücklich und studierte es sorgsam von allen Seiten. Sehr bald schon hatte ich seine Form verinnerlicht, und „schnitzte“ nun bei jedem Abendessen Kängurus aus Hartkäse oder knetete sie aus Brot. So entstand eine „Dekoration“, die bei meinen Tischgenossen teils Entzücken, teils Missfallen erregte. Bei einem Abendessen verkündete ich plötzlich, dass draussen im Gang zwei Kängurus herum hüpften und stampfte lange mit den Füssen. „Du sollst nicht laut sein.“ schimpfte meine Mama, worauf ich frech lachend betonte: „Es ist aber doch wahr, die Kängurus hüpfen draussen herum!“

      Traf ich zufällig auf Kängurubilder oder -geschichten in einer Illustrierten, so gab ich mir grosse Mühe, meine Erregung zu verbergen. Trotzdem bemerkten es die anderen sofort und machten sich über mich lustig. Das kränkte mich, denn es berührte mein intensives, intimes Empfinden.

      Kontakte mit dem Judentum

      Es waren ausgelassene und fröhliche Tage, bevölkert von realen und fiktiven Kängurus, ihren Abbildungen und meinen Vorstellungen, aber auch konkreten Begegnungen mit ihnen im Zoo. Sogar in meinen Träumen tauchten sie nun auf.

      Doch eines Abends brach die schicksalhafte Wirklichkeit des Lebens in unsere Familie hinein, ihre Schatten auch über mich werfend. Nach einem Abendessen las meine Mama mit tief ernstem Gesicht einen langen Brief, in dem viele Wörter von der Zensur schwarz durchgestrichen worden waren. Sofort bemerkte ich ihre Sorge und fragte sie, worum es ginge. Ganz offen erklärte sie mir, dies sei endlich der ersten Brief ihrer Verwandten aus Holland, die mit Ausnahme meines Grossonkels das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt hatten und nun völlig mittellos in die Heimat zurückkehrt waren. Mama meinte, sie müsse mit Papa darüber sprechen, wie ihnen zu helfen sei. Ich begriff von alldem nichts, zumal ich meinte, der Krieg sei vorbei. Meine Mama bestätigte dies, erklärte mir aber dann in einer für mich verständlichen Ausdrucksweise, dass die Nationalsozialisten Millionen von Menschen in Konzentrationslager verschleppt und dort getötet hatten, in der Hauptsache Juden. Erst durch diese langen, mühevollen Erklärungen wurde mir bewusst, dass auch wir Juden waren. Meine eigene jüdische Identität realisierte ich erst im Alter von elf Jahren. Bis dato war ich sozusagen in einem christlichen „Kokon“ aufgewachsen, der vor allem von Tante, ihrer Familie, unseren Dienstmädchen und Nachbarn und natürlich den Pfadis „gewebt“ worden war. Dabei hatten auch die Bilder und Dekorationen bei christlichen Festtagen eine grosse Rolle gespielt. Von einer jüdischen Atmosphäre in unserer Familie hatte ich bis dahin nur wenig gespürt, obwohl ich die religiösen jüdischen Riten und Zeremonien bei unseren Verwandten schon gesehen hatte. Doch deren Bedeutung blieb mir zunächst verborgen.

      Noch ohne den Sinn des Geschehens zu erfassen, hatte ich mit etwa fünf Jahren etwas erlebt, was mich besonders gefesselt hatte: das allmorgendliche Gebet meines Grossvaters mütterlicherseits. Ich beobachtete ihn, wie er am frühen Morgen aus seinem Schlafzimmer trat, sich den Tallith (Gebetsmantel) umlegte, die Tefillin (Gebetsriemen mit der schwarzen Kapsel) auf seinem Kopf befestigte und den zweiten Riemen der anderen Kapsel um seinen linken Arm wickelte, um dann, mit einer Hand ein noch von den Urgrosseltern stammendes Buch haltend, sich mehrmals zu verbeugen. Von dieser geheimnisvollen Prozedur inspiriert, versuchte ich selber, meinen Kopf und meinen Arm mit Schnüren oder Schuhriemen zu umwickeln…

      Jahre später erschien mein Grosspapa eines Tages weder zum Frühstück noch zum Mittagessen, was mir ungewöhnlich vorkam. Zum Abendessen war er wieder da, worüber ich hocherfreut war. Ich fragte ihn, wo er gewesen sei. Er antwortete etwas, das ich nicht verstand. Ich schaute fragend zu Tante, die mir anstelle von „Synagoge“, einem für mich noch schwer entzifferbaren Wort, kurz und bündig sagte: „…in der Kirche!“ Es muss wohl an Yom Kippur (Versöhnungstag) gewesen sein, einem Feiertag, dessen Sinn mir erst einige Jahre später aufging. Ich weiss auch noch, wie er mir einmal sein Gebetbuch vor die Augen hielt und es mich nicht wenig verblüffte, dass ihm diese merkwürdig fremden Buchstaben des Hebräischen so vertraut waren.

      Mama und ich unterhielten uns nun oft über unser eigenes Judentum. Schliesslich beschloss sie, die jüdischen Traditionen daheim wieder mehr zu beleben. Immer wieder – besonders während des Krieges – war ihr empfohlen worden, sich christlich taufen zu lassen oder gar auszuwandern, und sie fühlte sich ein wenig verloren in einer fast ausschliesslich christlichen Umwelt.

      Ein halbes Jahr verbrachte Hanni, eine holländische Verwandte, bei uns. Es waren knapp 8 Monate nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager vergangen, und Hanni mit ihren glatten, blonden Haaren war sehr mager und befand sich noch immer in einer kränklichen Verfassung. Doch dank der familiären Wärme und der guten Versorgung bei uns konnte sie rasch