Doris Herrmann

Känguruherz


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Kängurumütter mit den vollen Beuteln aufmerksam zu machen, indem sie ihren Rock mit den Händen ausdehnte. Ich beäugte jedes Tier genau, ohne aber die Bauchtasche mit den herausschauenden Jungen wahrzunehmen. Dafür verfolgte ich ihre eigentümliche Art der Fortbewegung, die es bei keiner anderen Tierart gibt: Zuerst beide Vorderpfoten nach vorn auf den Boden setzend, die Hinterbeine hebend, die sie dann auch nach vorne setzen, zuletzt den Schwanz zwischen den Hinterbeinen hindurchschiebend und gleichzeitig die Vorderpfoten wieder nach vorn setzend. Diese sonderbaren und dennoch geschmeidigen Hoppelbewegungen beeindruckten mich sehr. Obgleich das im Zoo Gesehene eine grosse innere Erregung bei mir ausgelöst hatte, so schwieg ich doch beharrlich, selbst dann noch, als wir im Zoorestaurant bei Tee und Kuchen sassen. Kein Wort kam über meine Lippen. Trotz verschiedenster Ablenkungen bewahrte ich die Flamme des Erlebnisses bis zum folgenden Abend in mir. Im Badezimmer dann probierte ich nach der Abendtoilette ganz für mich diese merkwürdige, seltsam elegante und faszinierende Fortbewegungsart! Einem Känguru fiel sie – dank seines starken Schwanzes, der den Körper stützt – gewiss leichter. Ich dagegen brachte nur ein unbeholfenes Hasengehoppel zustande.

      Über der weissen Berglandschaft erstreckte sich das herrliche Blau des Himmels. Der meterhohe Pulverschnee glitzerte in den kräftigen Sonnenstrahlen, und die Schneekristalle tanzten als feinste Leuchtkügelchen über ihm. Ich war etwa acht Jahre alt. Vom Bergdorf kommend stapfte ich mit meiner Familie auf Umwegen heimwärts. In wenigen Stunden würde die Abenddämmerung uns einhüllen. Der lange, steile Weg wollte einfach nicht aufhören. Ich fühlte mich erschöpft, das machte mich übellaunig. So hielt ich meine Augen fest auf den Weg vor mir geheftet und blickte kaum zu einem der Mitgehenden auf. Die Strecke war von den vielen Schlittenfahrten stark und regelmässig gewellt. Brav lief ich mit meinen genagelten Bergschuhen, zwei Schritte steil, zwei Schritte flach, zwei Schritte steil, zwei Schritte flach und so fort. Das grelle Weiss der Schnees ringsum sowie die Eintönigkeit meiner Bewegungen versetzten mich in einen Zustand der Geistesabwesenheit, einer Trance ähnlich. Und so sah ich plötzlich vor mir auf dem Weg ein Känguru, das sich in derselben Richtung bewegte wie wir. In graziösem Zeitlupentempo stieg diese merkwürdige Gestalt hinauf, immer zuerst die beiden Vorderpfoten auf die Schwellenhöhe setzend, dann die Hinterfüsse hinaufhebend, während die untere Hälfte des muskulösen, langen Schwanzes den Hinterkörper hochstemmte und nachzog. Und dies Schwelle für Schwelle. Diese kräftigen, malerischen Eindrücke halfen mir über meine Müdigkeit hinweg, sodass ich es frohgemut bis nach oben schaffte. Natürlich war mir damals bereits bewusst, dass Kängurus nicht im Schnee leben*, ohne dass ich jedoch genau hätte sagen können, wo und wie sie wirklich lebten.

      Meine starken Empfindungen für diese Tiere hatten nun einen festen Ankergrund gefunden. Nach aussen wurde dies jedoch noch nicht sichtbar, wo viele andere für mich wichtige Dinge in den Vordergrund traten. Da war zum Beispiel die Schule mit ihren täglichen Artikulations- bzw. Sprachübungen und anderen Unterrichtsfächern. Doch es konnte passieren, dass mir auf Spaziergängen Bilder von Kängurus vor mein geistiges Auge traten, die allerdings rasch wieder verschwanden. Diese ,Versiegelung‘ meines Interesses war vermutlich auch darin begründet, dass ich, wie andere Kinder auch, meine ganz persönlichen Wünsche und Sehnsüchte hatte. So war es einer meiner Herzenswünsche, mit ,normalen‘ Kindern in eine ganz normale Schule zu gehen. Auch wenn ich von Tante und meiner Familie gut und lieb umsorgt wurde, hatte ich doch oft mit Bitterkeit zu kämpfen, wenn mir mitunter sogar durch Schläge bedeutet wurde, folgsamer und weniger eigenwillig zu sein.

      Eines Tages – ich war neun – besuchte ich mit Mama, Peter und Tante eine grosse Weihnachtsschau in einem Basler Kaufhaus. Darin gab es einen Zirkus mit mannshohen Figuren. Sie wurden von Motoren bewegt, die sich hinter den Kulissen befanden. Der groteske Anblick der Clowns flösste mir Furcht ein, und ich wimmerte leise vor mich hin.

      Leicht erbost drückte Mama fest meine Hand. Still widmete ich mich weiter den Darbietungen und sah zu meiner Überraschung eine Parade aufrecht hüpfender Kängurus direkt an der Brüstung vorbeiziehen. Diese lieblich-anmutigen Gestalten beruhigten mich auf der Stelle. Doch ich verlor kein Wort darüber, so als müsse ich diese kostbaren Gefühle in der Tiefe meiner Seele vor der garstigen Aussenwelt beschützen und bewahren.

      Einige Zeit darauf kam es zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis, das mich stark prägte und bis in mein späteres Leben als Känguruforscherin begleitete. Eines Sonntags ging ich allein mit meinem Vater in den Basler Zoo. Dort standen wir eine Weile vor dem Stall einer Kängurugruppe. Da richtete sich plötzlich eines der Tiere auf und warf seinen Oberkörper so weit nach hinten, dass es mich schauderte. Doch ich blieb tapfer und hielt mich still. Es folgten immer wieder Träume, in der diese ungeheure Erscheinung auftauchte. Sie liessen mich zusammenfahren, rissen mich oft aus dem Schlaf und bedrängten mein kindliches Gemüt mit der Frage, ob es auch bei den Kängurus Gut und Böse gäbe…

      Erwachende Phantasie

      Diese Gedanken wurden bald abgelöst durch andere Themen. So besichtigten Tante und ich mehrmals das Basler Völkerkundemuseum. Als Ergänzung dieser Besuche las sie mir Geschichten oder Märchen aus anderen Weltregionen vor. Dies war mein allerliebstes Schulfach, denn es lieferte mir den Stoff, den meine Phantasie, die so gerne ins Grenzenlose schweifte, benötigte.

      Das, was ich im Museum von den dortigen Objekten der Naturvölker aufgenommen hatte, setzte ich daheim zeichnerisch oder malerisch in groteske und phantastische Darstellungen um. Tante gefiel dies weniger, und sie forderte mich zu ,sinnvollerem‘ Tun auf. Meiner Begeisterung tat das keinen Abbruch. Höchstwahrscheinlich lag es an meiner übersteigerten Einbildungskraft, die mir vorgaukelte, die Gesichtsmasken, Kostüme und Bekleidungen aus Holz, Stroh, Palmblättern, Ton oder Tierhäuten seien echte Gesichter aus Fleisch und Blut! Die Empfänglichkeit meiner Seele für diese Eindrücke war so stark, dass mich der Anblick eines schreitenden Schwarzen mit schirmartigen Kopf und an Stielen hängenden Glotzaugen masslos erschreckte und ich mich erst dann beruhigte, als ich seine Beine betrachtete und erkannte, dass sie sich von denen normaler Menschen nicht unterschieden.

      Während des Krieges fielen die Kohlentransporte für unsere Zentralheizung aus. Darum wurden im Haus drei Holzöfen samt Ofenrohren installiert. Auch diese bereicherten meine Phantasie: Einmal zeichnete ich auf der ganzen Wandtafel waag- und senkrecht verlaufende Ofenrohre und dazu breitere Kammern voll Feuer. Dann viele Menschen, die blindlings durch die dunklen Rohre wanderten, bis sie plötzlich hinunter in das Feuer fielen. Lachend zeigte ich dies meiner Mutter. Aber sie rief mir nur erbittert zu: „Ich will nicht mehr hinschauen!“ Die heftige Reaktion verstand ich nicht, hatte ich doch überhaupt keine Ahnung von der Wirklichkeit der Judenvernichtung. Meine Mama meinte es gut, mir nichts davon zu erzählen, um mich nicht in panische Angst zu versetzen, eben weil sich meine Familie jeden Tag vor einem eventuellen plötzlichen Übertritt der Deutschen in die Schweiz fürchtete. Dennoch haftet dieser Phantasie eines Kindes etwas Mysteriöses an, ohne dass ich es ausdrücklich Hellsichtigkeit nennen möchte.

      Meine grosse Liebe und Leidenschaft zu jener Zeit aber war das Theaterspielen, alleine oder mit anderen. Einige Stoffe, die ich zur Aufführung brachte, entstammten Märchen oder Marionettenspielen auf dem grossen Theater oder leiteten sich von Kinofilmen oder Bilderbüchern her. Doch meistens handelte es sich um von mir selbst erfundene Geschichten. So schleppte ich einmal in unserem Garten vor teils entsetzten, teils lachenden Zuschauern meinen Bruder, ganz in einen Bettbezug eingeknöpft, auf eine Erhöhung aus Stühlen und Brettern. Die Szene nannte ich: „Wie ein Räuber mit einem verschleppten Kind in eine Scheune zum Übernachten aufs Heu schleicht.“ Dass Peter während der ganzen Szene brav blieb und keinen Unwillen zeigte, bewahrte mich vor dem strafenden Eingriff der Zuschauenden. Als Kostümierung benutzte ich übrigens Stoffreste, die ich mit Wonne aus einer grossen Schachtel in der „Schatzkammer“ des obersten Stockwerkes herauswühlte. Ich nähte die passenden Stücke zusammen oder verwendete Sofaüberzüge. Zum Schminken bekam ich farbige Kreiden oder Mutters Lippenstifte. Ein anderes Mal führte ich vor dem ,Hauspublikum‘ eine ,Hexenschau‘ mit wilden Tänzen und wechselnder Verkleidung auf.

      Doch bei diesen Hexenspielen* ging es in erster Linie um eine Überwindung meiner zahlreichen Ängste, die Ausdruck meiner kommunikativen Verunsicherung waren und an denen ich viele Jahre litt. So war es mir kaum möglich, alleine in einem Zimmer zu bleiben oder ins Dorf zum Einkaufen zu gehen. Unheimlich war es auch für mich, wenn ich wusste,