Doris Herrmann

Känguruherz


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mich immer wieder aufs neue erschaudern liess.

      Einmal, im Winter in Arosa ( Bündnerland), schrie ich während des Mittagessens auf dem Balkon ununterbrochen, ohne mich zu beruhigen, bis meine Mutter mich schalt und ins Bett steckte. Erst zehn Jahre später konnte ich ihr alles erklären: Es war ein Luftbläschen in der Glastür gewesen, das eine solch unbeschreibliche Angst in mir ausgelöst hatte. Ich hatte neben der offenen Tür gesessen, die ganz an die Wand gelehnt war. Auf dieser bemerkte ich den winzigen, aber sehr hellen Lichtreflex jenes Luftbläschens, welcher sich ständig veränderte. Er wurde grösser, er wurde kleiner, dicker und dünner, je nachdem, wie sich die Tür dank meiner eigenen Bewegungen hin- und her bewegte und so zu meinem Schrecken dieses ,Glühteufelchen‘ hervorzauberte.

      Sensationen und Entdeckungen

      Winterzeit im Berner Oberland. Einmal vor der abendlichen Dämmerung nahmen mich meine Eltern mit auf einen Spaziergang im Schnee. Und da erlebte ich zum ersten Mal, wie ich in Ekstase geriet: Die von der Abendsonne zartrosa gefärbten Schneeberge, der tief leuchtend rotviolette Himmel darüber – dieses wundervolle Naturschauspiel bewegte und erregte mich in meinem Innersten! Die feurigen Himmelsfarben ruhten fortan in mir und begleiteten mich mein ganzes Leben, und manchmal schien es, als habe jenes grosse Leuchten mir Kraft verliehen. Wenn ich die australischen Sonnenauf- und -untergänge mit ihren vielfältigen und wundersamen Farbnuancen erlebte, überfiel mich oft eine ähnlich tiefe emotionale Erregung, die jedes Mal auch meine Erinnerung an das grosse Leuchten über den Schweizer Bergen in mir wachrief.

      Jeden Sommer und Winter verbrachten wir die Ferien in unserem Chalet im Berner Oberland. Das bedeutete für mich im Sommer ein herrliches Grün der Alpwiesen mit ihren vielen Blumen und flatternden Schmetterlingen und im Winter die weisse Pracht des Schnees mit vielen Eiszapfen, die von den Dächern und Vorsprüngen herabhingen. Diese Eindrücke bereiteten mir grosses Vergnügen.

      Bereits in der Kindheit galt mein Interesse den Tieren und mein Forscherdrang begann sich früh schon herauszubilden. Gespannt beobachtete ich jeden Tag die Vögel, wie sie die Körner aufpickten, die Mama aufs Balkonbrett gestreut hatte. Doch einmal wollte ich etwas anderes ausprobieren und „experimentierte“. Ich formte einen Schneeball, legte ihn auf das Futterbrett und wartete. Bald flog eine Meise herbei und begann, an dem Schneeball herumzupicken. Plötzlich machte sie merkwürdige Bewegungen: Sie spuckte die bohnengrossen Schneestückchen aus, pickte wieder, spuckte, pickte, spuckte erneut und immer so fort schnell hintereinander. Mama und ich mussten herzlich lachen!

      Heute, da ich mich in der Verhaltensforschung recht gut auskenne, weiss ich natürlich, dass das fortwährende Auspicken des Schneeballs kein Spiel, sondern reale Futtersuche war.

      Auch Insekten faszinierten mich. Hier waren es vor allem die sehr kleinen, krabbelnden und kriechenden Wesen, wie zum Beispiel Ameisen. Stundenlang konnte ich bäuchlings auf dem Teppich liegen und solch ein winziges Geschöpf beobachten. Nicht selten war ich so versunken in diese kleine Welt, dass ich heftig weinte, wenn eines dieser Insekten plötzlich auf Nimmerwiedersehen in einer Teppichmasche verschwand und so diesem fesselnden Erlebnis ein Ende bereitete.

      Viele Jahre später, ich war bereits Anfang zwanzig, bereitete es mir noch immer grosses Vergnügen, mich in diesen Mikrokosmos zu vertiefen und die Ameisenwege zu beobachten, die über das lange Sims oberhalb meines Bettes führten. Es war eine richtige kleine, lebendige Szenerie dort oben, auf einer „Bühne“ mit Büchern und Figürchen, theatralisch ausgeleuchtet von meiner Nachtischlampe. Mich störten die Tierchen auf ihren geschäftigen Wegen nicht am geringsten. Im Gegenteil. Es war ein besonderes Vergnügen für mich, Zucker als Leckerbissen auszustreuen, um dann bequem vor dem Einschlafen noch lange dem Gewimmel zuzuschauen. Doch dann träumte ich eines Nachts, dass vier riesige Ameisen sich gewaltsam auf mich stürzten, so dass ich im Schlaf laut um Hilfe schrie, worauf mein Papa erschrocken zu mir eilte und fragte, was denn sei…

      Wie alle kleinen Kinder versuchte auch ich, die Tätigkeiten der Erwachsenen nachzuahmen. Zum Beispiel bei einem Bauern im Berner Oberland. Mit dabei war Topi, der Zwergpudel meiner Verwandten, mit dem ich nach Herzenslust spielen durfte. Auf einem Spaziergang kamen wir an einem Kuhstall vorbei, in dem ein Bauer auf seinem Melkschemel sass und einen grossen Eimer unter das Euter einer Kuh gestellt hatte. Mit einem nassen Lappen wischte er das weissrosa Euter ab, bevor er mit seiner Arbeit begann. Worum es hier ging, wusste ich nicht. Mir war nicht einmal klar, woher die Milch kam, die ich täglich trank. Kaum waren wir zu Hause, rannte ich in die Küche, holte einen kleinen Eimer, machte einen Wischlappen nass und setzte mich damit bei Topi nieder. Mit dem nassen Lappen griff ich nach seinem Bäuchlein, was ihm natürlich missfiel und er sich wehrte, bis meine Eltern eingriffen.

      Andererseits war ich der festen Überzeugung, dass vierbeinige Wesen ein ebensolches Bewusstsein haben wie wir Menschen, und dass sie in Notsituationen unsere Helfer sein konnten. So auch Topi. Eines Tages halfen wir auf der Alpwiese beim Heuen. Plötzlich kam ich in Nöte und suchte vergeblich nach einem Häuschen. Ich hielt mich mit aller Macht zurück, um ja keine Schläge zu bekommen. Niemand bemerkte mein rasch wachsendes Unbehagen. Doch ich konnte nicht sprechen, um meinen dringenden Wunsch zu äussern. Da begann Topi, die Wiese auf seine Art zu bearbeiten. Mit seinen Vorderpfoten grub er ein tiefes Loch, wohl weil er nach Mäusen oder Knochen suchte oder seine Vorräte dort zu verstecken gedachte. Ich dagegen glaubte fest, er habe dieses Loch extra für mich gegraben, zog hurtig mein Höschen herunter und erleichterte mich…

      Schulzeit

      Nachdem wir umgezogen waren und nun im Basler Vorort Riehen wohnten, kam ich in den Kindergarten der dortigen Taubstummenanstalt. Hier galt mein grosses Interesse mehr den herrlichen Farben der Wandtafeln als dem Unterricht oder den gemeinsamen Spielen. Ich entdeckte hier, dass man Kreide verwischen konnte, was ich auch gleich an einem Kreidebild praktizierte. Die Betreuerin reagierte auf meine Handlung sehr unfreundlich, schickte mich hinaus und verschloss zusätzlich hinter mir die Tür. Verschreckt lief ich durch die Gänge, öffnete Tür um Tür, ohne dass mich die anderen Klassen hereinliessen. Zuletzt verirrte ich mich in einen langen Gang, dessen Türen allesamt verschlossen waren. Verzweifelt wimmernd hockte ich mich dort nieder.

      Dies waren nun gewiss keine guten Vorzeichen, und da auch meiner Mama die gesamte Einrichtung und deren Personal nicht sonderlich sympathisch erschienen, nahm sie mich wieder von dieser Schule und engagierte eine Hauslehrerin für mich.

      Doch ich geriet vom Regen in die Traufe. Diese Frau, an deren Gesicht ich mich nicht mehr erinnere, schloss mich häufig ins WC ein, wenn meine Eltern ausser Haus waren. Ich durchlitt furchtbare Ängste und schrie, da ich glaubte, dass sich die Tür nie wieder öffnen werde! Doch all mein Schreien und Jammern halfen nichts. Glücklicherweise bemerkten meine Eltern schon bald, was los war und entliessen die boshafte und sadistische Person.

      Dann, am 1. Mai 1938 traf Rosa Hunziker bei uns ein. Sie entstammte einer grossen Bauernfamilie im Kanton Aargau und war dazu ausersehen, Kindermädchen und Erzieherin für mich zu sein. Schon nach wenigen Tagen, noch bevor ich begonnen hatte richtig sprechen zu lernen, nannte ich sie liebevoll bei dem Namen, den sie sich mir gegenüber selber gegeben hatte: „Tante“!

      Mit vier Jahren war ich in der Vorschulstufe, wo ich voller Freude und Eifer das Sprechen und Schreiben erlernte. Tante machte mich mit den Namen meiner Eltern, Verwandten und Freunde vertraut, ebenso mit den Namen von Tieren und wichtigen Gegenständen. Tante zeichnete und malte schöne, anschauliche Bilder von Dingen verschiedenster Art und schrieb zu jedem ein Zettelchen mit dem entsprechenden Wort. So konnte sich alles meinem Gedächtnis leichter einprägen. Dies inspirierte mich so, dass ich anfing, neue Wörter zu erfinden. So deutete ich zum Beispiel mit dem Finger auf die Sonne, zeichnete sie, versuchte ein passendes Wort zu finden und schrieb dann darunter: „OR“.* Dann drückte ich verzweifelt den Bleistift in Tantes Hand, woraufhin sie schrieb: „SONNE“.

      Oh diese Farben…!

      So oft ich konnte, beobachtete ich als Kind den Himmel mit all seinen Erscheinungen und Veränderungen. Dabei waren es vor allem seine unendlich vielfältigen Farbenspiele, die mich zutiefst beeindruckten. Diese Erlebnisse waren so stark, dass ich nicht selten davon träumte, wie sich die Wolken rostrot oder rot, orange oder gelbbraun färbten. Einmal ging ich mit Tante spazieren, als wir von schweren, dunklen Gewitterwolken