Jahre später war ich fähig, kleine Sätze zu bilden und zu sprechen. Auf Wanderungen beobachtete ich Berge, Himmel und Wolken und erfreute mich an den bunten Alpenblumen. Oben sagte ich: „Himmel fährt … Wolke fährt … Sonne fährt.“ Waren die Berge von Nebel umhüllt, artikulierte ich: „Der Berg ist ab.“ Bei solcher Gelegenheit beobachtete ich zum ersten Mal einen Sonnenuntergang. Zu sehen, wie die glühend rote Sonne hinter dem Horizont versank, war für mich ein tiefgreifendes Erlebnis, und ich stiess ganz aufgeregt hervor: „Die Sonne ist abgefallen!“
Eines Nachmittags flochten Tante und ich mit Papierstreifen, deren Farben sich mir fest einprägten: Lachs und Elfenbein. Später in der Berufsschule kombinierte ich Lachs als Ausgangston mit gefühlsbetonten Farben wie Rostrot, hellem Beige, dunklem Grün, Türkisblau, zartem Rot und nicht zuletzt auch Zitronengelb. Jahrzehnte später, bei meinem ersten Australienaufenthalt, sollte ich zu meiner grossen Überraschung erleben, dass eben diese Farben auch in der dortigen Natur dominierten. So fanden sich Lachs oder auch Fuchsrot bei den roten Riesenkängurus mit ihren weissen Wangenstreifen, das Rostrot in der für Zentralaustralien typischen Erde, das intensive Türkisblau war das des Himmels, Zitronengelb fand sich in den Akazienblüten und so weiter.
Als ich im fortgeschrittenen Alter die sorgsam aufbewahrten, mittlerweile verstaubten Hefte mit meinen Kinderzeichnungen aus dem Keller holte und sie betrachtete, wurden zu meinem grossen Erstaunen, aber auch ebenso grossen Schrecken viele Erinnerungen plötzlich wieder wach. Auf einer Fahne ist sogar das politische Emblem der Hitlerzeit zu erkennen. Stand doch in der Vorkriegszeit am deutschen Bahnhof inmitten des schweizerischen Dorfes eine Hakenkreuzfahne, die man nicht übersehen konnte! Ausserdem fand ich in den Heften skurrile Figuren und Gesichter mit senkrechten Stirnfalten und zackigen Lippen, die auf böse Blicke hindeuteten, wie ich sie mitunter von meiner Familie oder den Dienstmädchen erntete, wenn ich mich wieder mal recht eigensinnig benommen und nur das getan hatte, was mir gerade passte. Ich stiess unter meinen Kinderzeichnungen auch auf Figuren, deren Riesenhände nur zwei Finger aufweisen und deren lange Fingernägel direkt aus ihrem Rumpf „spriessen.“ Sie sind Ausdruck einer Bedrohung, die ich empfand, wenn man mich packte oder auf der Strasse an der Hand festhielt und alle meine Befreiungsversuche vergebens waren. Fingernägel hatten aber auch noch eine andere grosse Wirkung auf mich, denn ich liebte es, über Mamas glatte und wundervoll rot lackierte Fingernägel zu streichen, wobei ich sie stets bat, auch mir die Daumennägel zu lackieren.
Von verzauberten Menschen und beseelten Dingen
Im Frühling 1940 fürchtete man im Raum Basel ein Überschreiten der Schweizer Grenze durch deutsche Truppen. Die Lage wurde als so bedrohlich eingeschätzt, dass wir uns zu unserer Sicherheit in Grindelwald einquartierten. Die Kriegsgeschehnisse waren mir damals, im Alter von 6 Jahren, praktisch noch nicht bewusst. Lediglich die riesigen Koffer und der grosse Reisekorb deuteten darauf hin, dass die Familie viele Monate von zu Hause fortbleiben würde. Anfangs war es für mich völlig ungewohnt, erstmals nur mit Tante und Peter, meinem jüngeren, gleichfalls gehörlosen Bruder* im Chalet zu leben. Ich vermisste jedoch nicht nur meine Eltern, die noch nicht gleich mitgekommen waren, sondern mein geliebtes Spielzeug, das beim hastigen Einpacken gänzlich vergessen worden war. Zum Glück kamen nach einigen Tagen die Eltern zu uns herauf, und Mama überreichte mir eine schwere Schuhschachtel. Beim Aufmachen konnte ich mich vor Freude kaum halten: Es war eine Lokomotive, die man mit dem Schlüssel aufziehen und laufen lassen konnte. Ich liebte sie sehr, da ich sie als ein ,beseeltes‘ Wesen ansah, ein ,Tierchen‘ aus Blech mit Rädern, mit einem Motörchen anstelle innerer Organe. Auf Spaziergängen trug ich dieses Blechtierchen liebevoll im Arm mit mir herum und nahm es sogar mit ins Bett…
Täglich ,studierte‘ ich nach dem Mittagessen „Schmeils Tierleben“, und noch viele Stunden danach beschäftigte ich mich in Gedanken mit dem, was ich auf den Abbildungen eingehend betrachtet hatte. Eines Abends stellte ich fest: „Der Vogel hat keinen Arm“ (die Flügel konnte ich noch nicht einordnen), und: „Der Vogel hat kein Ohr.“ Die Abbildungen von Skeletten, Gebissen, aufgeschnittenen Bäuchen von Tieren und Menschen interessierten mich stark. Dass die Bauchhöhle mit Eingeweiden gefüllt ist, wusste ich bereits, erkundigte mich aber bei Tante, wohin die von den Zähnen zerkaute Nahrung gehe. Sie erklärte mir in sehr vereinfachender Weise, dass der Magen Salate, Mus, Äpfel oder Kartoffeln zu Säften presse, die dann direkt ins Blut gingen, während die Reste durch den Darm zum Ausgang gelangten.
Dass Menschen und Dinge verzaubert werden können, war für mich etwas Selbstverständliches. Nun geschah es, dass mein Papa einmal wieder als Hilfssoldat einrücken musste. Ich hatte keine Ahnung, warum Papa so lange fort blieb, und ich vermisste ihn von Tag zu Tag mehr. Seine persönliche Gegenwart als Familienoberhaupt trug sehr zu meinem Wohlbefinden bei!
Eines Nachmittags wollte Mama mit mir spazieren gehen, doch viel lieber wäre ich hinunter zum kleinen Bahnhof mit seinen Zügen und der faszinierenden Rangierdrehscheibe gelaufen. Folglich war ich mürrisch. Mama verstand es jedoch, mich umzustimmen, und bald darauf genossen wir den gemeinsamen langen Spaziergang über die Alpenwiesen mit ihren vielen Blumen. Auf dem Heimweg blieb Mama plötzlich stehen und lauschte, lief zur Steinmauer am Wege, schaute in ein Mauerloch und hob mich hoch. Im Halbdunkel sah ich eine seltsame kleine Gestalt auf zwei dünnen Beinchen hin- und her schaukeln. Meinem Blick bot sich ein nacktes, rundliches Körperchen, ein possierlicher Kopf und ein breites Mäulchen. Meine Mama flüsterte „Baby“ und machte Watschelbewegungen dazu. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen. Es juckte mich am ganzen Körper. Beim Lippenablesen hatte ich „Papa“ verstanden und war nun der festen Überzeugung, dass mein Vater in dieses bizarre Figürchen verzaubert worden sei! Ich wusste ja noch nichts von der Vogelbrut. Doch erholte ich mich bald von der unglaublichen Erscheinung und akzeptierte für mich das offenbar unwiderruflich Geschehene. Nun ging ich täglich zu jener Steinmauer und genoss jedes Mal ein glückliches Wiedersehen mit Papa! Darüber vergass ich fast mein Interesse an dem kleinen Bahnhof mit der romantischen Berner-Oberland-Bahn der 30er Jahre.
An warmen Tagen hielt Tante mit mir die Lektionen im Wald oder auf der Bergwiese ab. Während der Pausen, aber auch sonst in jeder freien Minute zog es mich zu meinem Lieblingsplätzchen, einem wunderschönen, unberührten Stückchen rauen Waldbodens mit Steinen, Moosen, Alpenkräutern, Preisel- und Erdbeeren. Dort herrschte ein reges Leben. Der Boden war von allerlei Käfern, bunten Schmetterlingen, Schnecken und Würmern bevölkert. Anfangs scheute ich mich ein wenig vor der Vielzahl dieser Lebewesen, doch schon bald gewann meine Neugier die Oberhand. Unermüdlich konnte ich dort sitzen oder liegen, liess Ameisen, Käfer und andere Insekten über meine Arme und Hände krabbeln und beobachtete sie dabei eingehend.
Einmal nahm ich eine Schüssel aus der Küche, füllte sie mit Erde, Steinen, Moos und Pflanzen, setzte allerlei Tierchen hinein, nahm sie mit nach Hause und füllte viel Wasser dazu, nicht ahnend, dass die armen Kreaturen, darunter auch Würmer und Raupen, so nicht überleben konnten. Insektenstiche fürchtete ich wenig; ich freute mich vielmehr, in der Schule nicht schreiben zu müssen, wenn meine rechte Hand stark angeschwollen war.
Dank dieser glücklichen Zeit im Bergdorf, des schönen Beisammenseins mit Tante und der Familie sowie der vielen, die Aufmerksamkeit schärfenden Entdeckungen in der neuen Umwelt machte meine Entwicklung rasche Fortschritte. Vor dem Einschlafen hatte ich meist das grosse Bedürfnis, mich mit jemandem über all die neuen Ereignisse und Eindrücke des täglichen Lebens zu unterhalten. Dieser Jemand musste viel Geduld aufbringen, an meinem Bettrand sitzen und mir stundenlang zuhören. Denn ich redete und redete – zumeist schwer verständlich – über Eisen-, Berg- und Schwebebahnen, über die Tierwelt, den Körperbau und tausend andere Dinge mehr. Gegen Ende unseres langen Aufenthaltes im Bergdorf waren mir bereits beinahe alle Bezeichnungen für die täglichen Gegenstände, ebenso wie viele Tätigkeits- und Eigenschaftswörter vertraut.
Erregende Tierwelt
Als ich fast sieben war, besuchten Tante und ich den Basler Zoo. „Schau, da spricht der Papagei…“, sagte Tante. Ich blickte sofort auf diesen bunten Vogel, der angekettet auf einer Stange sass und mit offenem Schnabel Zungenbewegungen machte. Erwartungsvoll schaute ich mir seinen Schnabel genauer an, im Glauben, man könne von ihm ablesen.
„Au, au, der Löwe ist böse; der Löwe frisst Menschen“, sprach Tante halb ernst, halb scherzhaft, und ich betrachtete schaudernd das