Doris Herrmann

Känguruherz


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zurück, fragte ich Tante und Mama, ob es nun morgen Orangen und Bananen geben werde, denn ich hatte es satt, jahrein, jahraus nur Äpfel und Birnen essen zu müssen. Sie entgegneten aber nur, die werde es noch lange nicht geben, da die Eisenbahnschienen zerstört seien und erst wieder aufgebaut werden müssten.

      *Vor längerer Zeit entdeckte ich zu meiner Überraschung in einem alten Album ein Foto. Meine Mutter hatte es beschriftet: „Im Basler Zoo“. Zu sehen ist meine mit mir schwangere Mutter, die auf einer Bank vor einem mächtigen Baum sitzt. Sie ist damit beschäftigt, ein Jäckli für mich zu häkeln. An ihrer Seite sitzen meine Verwandten. Dieser Anblick berührte und fesselte mich auch gedanklich auf seltsame Weise. Erst wenige Jahre vor ihrem Tod gestand mir meine Mutter, dass sie in ihrer Jugendzeit überhaupt nichts von Kängurus gewusst habe, bis zu dem Zeitpunkt, als sie sie zum ersten Mal – vielleicht an jenem Tag – im Zoo sah. Ich versuchte sie auf’s genaueste auszufragen. Doch sie betonte immer wieder, sie könne sich an nichts mehr erinnern.

      War jener Augenblick vielleicht ein magischer gewesen, in welchem der ,Geist der Kängurus4 über meine Mutter und damit auch über mich, die ich noch in ihrem Leib weilte, gekommen war… ? Diese Frage ist Anlass für wundervolle Spekulationen, eine gültige Antwort werde ich wohl nie bekommen.

      *Wie überrascht war ich Jahrzehnte später, als ich durch Zufall erfuhr, dass im Französischen „Gold“ oder „golden“ „or“ hiess. Ähnlich „oro“ im Italienischen. So falsch hatte ich also damals mit meiner Charakterisierung der Sonne also nicht gelegen…

      *Meinem Bruder, dessen Leben und dessen Schicksal mir und meiner Familie immer sehr nahe war, habe ich ein gesondertes Kapitel („Mein Bruder und ich“) gewidmet.

      *Wie staunte ich, als ich 50 Jahre später beim Besuch eines kleinen Tierparks im schneebedeckten Berner Mittelland etliche zwerghafte, dunkelbraune Kängurus, so genannte tasmanische Wallabies, geschickt auf ihren Hinterbeinen durch das ca. 30 cm hohe Weiss hüpfen sah, wo sie hübsche Spuren hinterliessen. Es war für mich wie ein Traum. Doch begriff ich sofort, dass diese kleinen Vertreter wohl aus dem kälteren Süden Australiens, vielleicht sogar direkt von der Insel Tasmanien stammten, wo manchmal auch etwas Schnee liegt.

      *Doch auch im fortgeschrittenen Alter hatte ich noch Freude am Mummenschanz. 1983 bei einem Künstler-Maskenball in Basel, trat ich noch einmal als Hexe in einem alten, seidenen, grüngestreiften Rock auf, den ich auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Auf dem Kopf trug ich eine selbstgebastelte skurrile Krone aus Draht und Perlen. Mein ganzes Gesicht hatte ich fuchsrot bemalt, die Wangen mit senkrechten weissen Streifen versehen und meiner Nasenspitze einen pechschwarzen Punkt verpasst. Diese gewiss etwas sonderbare „Maskierung“ hätte allerdings nur ein Eingeweihter verstehen können, entsprach sie doch, wenngleich etwas stilisiert, in ihrer Gestaltung dem Aussehen des roten Riesenkängurus. Doch ich hütete mich etwas davon zu verraten aus der begründeten Furcht, irgendeine spasshafte Bemerkung könne meine Gefühle verletzen. Aber genau diese waren mir heilig.

      *In der Schweiz nennt man die Pfadfinder allgemein „Pfadis.“

       In ihren Bann gezogen

      Es durchfuhr mich wie ein Blitz!

      Einen Tag nach Kriegsende weihte mich Tante zum ersten Mal eingehender in die Hintergründe der Entstehung des zweiten Weltkriegs ein. Zu diesem Zweck nahm sie mich mit in ihr Schlafzimmer und zeigte mir auf der an die Wand genagelten grossen Weltkarte die Kriegsgebiete. Bei dieser Gelegenheit lehrte sie mich auch gleich die fünf Kontinente, wobei sie zuletzt auf eine riesige, purpurrote Insel wies und sagte: „Das ist Australien.“ Ich betrachtete dieses konturenreiche Gebilde, das mir nicht nur völlig fremd, sondern auch als ein am Rande der Welt gelegenes Gebiet erschien, von dem ich nicht einmal hätte sagen können, ob es dort Lebewesen gab. Und doch prägte sich mir der Anblick dieser seltsamen Insel fest ein, wurde wie ein Samenkorn in eine Furche meines Gedächtnisses gelegt. Wie sehr Australien einmal zu einer Art Lebensmittelpunkt für mich werden sollte, ahnte ich damals natürlich noch nicht.

      An einem schönen, strahlenden Maitag setzte sich Tante mir gegenüber an den Tisch, öffnete das Schullesebuch und blickte mich munter lächelnd an:„Heute habe ich eine lange Zoogeschichte für dich.“ Sie las sie mir vor, und ich sprach das, was ich von ihren Lippen Wort für Wort ablas, nach.* Trotz des mühevollen Vorgangs ermüdete ich nicht. Im Gegenteil, ich genoss diese spannende Tiergeschichte. Da war zuerst von Affen die Rede, dann von Elefanten, darauf kamen die Raubtiere und viele andere Zoobewohner.

      Obwohl viele Tiere an die Reihe kamen, hätte ich doch keinem von ihnen besondere Beachtung geschenkt, wäre nicht plötzlich ein seit langem in Vergessenheit geratenes Exemplar wieder aufgetaucht: Das KÄNGURU! Bei diesem Wort blickte mich Tante heiter an und vollführte mit den Händen Kängurusprünge. Dabei zeigte sie, welch hohe Sätze dieses Tier sogar mit vollem Beutel machen kann. Ich lachte fröhlich mit, weil sich die Stimmung im Unterricht auf so unerwartete Weise belebte.

      Einige Tage später besuchten wir das Naturhistorische Museum. Tante gab mir die Schulaufgabe, verschiedene Tiere zu zeichnen, was mich nicht sonderlich reizte. Als ich schliesslich etliche Zeichnungen angefertigt hatte, packten wir alles zusammen. Gerade wollte ich dem Ausgang zustreben, da fühlte ich plötzlich, wie mich Tante leicht am Arm stupste und mir bedeutete, nochmals mit ihr zurückzugehen. Sie stellte meinen Schemel vor eine Vitrine und forderte mich mit verschmitztem Lächeln auf, zuallerletzt noch dieses eine Tier zu zeichnen. Es war ein Känguru! Zunächst unwillig setzte ich mich hin und zeichnete. Tante war nicht ganz zufrieden mit meiner Darstellung, nahm selber den Bleistift zur Hand und korrigierte die Umrisse. Dann gab sie mir den Auftrag abzuschreiben, was auf dem Täfelchen stand. Also kritzelte ich den Text darunter – und kam dabei aus der Verwunderung kaum heraus, denn dort stand, dass Kängurus nur von Pflanzen lebten.

      „Fressen sie etwa auch Tulpen, Schlüsselblumen und Sonnenblumen?“ fragte ich. „Du weisst doch, sie fressen nur Gras!“ erwiderte Tante stirnrunzelnd.

      Wenige Tage darauf waren wir wieder im Zoo. Tante eilte vor mir her, eine Liste der Tiere in der Hand, die sie mir zeigen wollte. In raschem Tempo ging es an vielen Gehegen vorüber, auch an denen der Kängurus. Dennoch konnte ich nicht widerstehen und warf einen raschen Blick zu ihnen hinüber. Und da durchfuhr es mich wie ein Blitz! Es mag seltsam klingen, aber genau so war es. Unwillkürlich machte ich einen Luftsprung. Der innere Funke war zur Flamme geworden, die innige Verbindung mit den Kängurus hergestellt! Und so sollte es fortan bleiben.

      Anderntags gingen wir bei strahlendem Sonnenschein spazieren. Plötzlich hielt ich im Laufen inne und fing an über die Wasserpfützen zu hüpfen, dass meine Zöpfe nur so flogen. „Känguru, Känguru!“ rief Tante heiter, sobald ich mich nach ihr umdrehte.

      Heute kann ich sagen, dass meine übergrosse Zuneigung erst dadurch richtig gefördert wurde, dass jemand diese mit Sympathie und Frohsinn begleitete, wie Tante dies tat.

      Nun ging es auch in unseren Schulstunden munterer zu, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit redete ich über Kängurus. Bald waren Wandtafel, Schulhefte, Zeitungsränder, ja sogar das Trottoir voll von ihren Abbildungen. Durch entsprechende Übung gelang es mir bald, die Darstellung hüpfender, stehender und spielender Kängurus, mit vollem oder leerem Beutel, zeichnerisch zu verfeinern. Bei Spaziergängen hüpfte ich über die Wiesen oder in den Wald, bis Tante mir zurief, ein Känguru sei durchgebrannt und sie müsse heute Abend den Wärter benachrichtigen, denn es springe in den Matten umher…

      Ich wollte nun alles über dieses Tier möglichst ganz genau wissen. So unterbrach ich einmal unsere Handarbeitsstunde mit der mich brennend beschäftigenden Frage, wieso das Kängurubaby im Beutel so gut versorgt sei und was es da drinnen eigentlich tue. (Ein Thema, an dem ich später einmal wissenschaftlich arbeiten sollte.) Tante starrte mich sprachlos an und überlegte einen Moment. Dann beschied sie mir, ich solle erst die Häkelarbeit beenden, danach werde sie mir etwas zeigen. Meine Spannung wuchs. Sie brachte das seit meiner frühen Kindheit unvergessene „Schmeils Tierleben“ und blätterte darin herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

      „Das Junge kommt als winziges Wesen von kaum zwei Zentimetern auf die Welt und wird von der Kängurumutter mit den Lippen von unten (dies erläuterte Tante