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Am späten Nachmittag waren wir noch einmal im Labor von Dr. Claus in der Bronx.
Es gab Neuigkeiten.
„Die Analyse der Bleiisotope liegt jetzt vor“, eröffnete uns Dr. Claus. „Der Mann, dessen Identität wir herauszufinden versuchen, stammt aus Russland oder dem Baltikum und hat dort auch so gut wie sein ganzes Leben verbracht. Außerdem muss er längere Zeit in Vietnam gewesen sein, wenigstens zwei Jahre.“
„Das ist alles?“, fragte ich.
„Bislang ja. Die Schlüsse daraus müssen Sie schon selbst ziehen. Aber um wen es sich auch immer handeln mag – es war ganz bestimmt sein erster Besuch hier an der Ostküste der Vereinigten Staaten!“
„Fragt sich nun, wem der Schuh passt“, meinte Milo.
„Die Zahnbehandlungen werden wir so schnell nicht rekonstruieren können. Aber das wenige, dass sich finden ließ, deutet auf Behandlungen nach Standards, die in Osteuropa üblich sind“, fuhr Dr. Claus fort.
Wir gingen anschließend zurück zum Sportwagen, aktivierten den Bildschirm und fuhren den Computer hoch.
„Die Sache ist doch ganz einfach“, sagte Milo. „Wir haben ein paar Merkmale und suchen jetzt eine passende Person dazu.“
„Wir kennen jemanden, der in Russland den größten Teil des Lebens verbracht hat, aber zwischendurch auch zwei Jahre in Vietnam war!“, sagte ich.
Milo sah mich verwirrt an.
„So?“
„Ich spreche von Marenkov!“
„Das ist ein Scherz oder Jesse?“
„Ich habe nur laut gedacht und mich daran erinnert, dass Marenkov seinen Aufenthalt in Vietnam erwähnte. Das ist alles.“
„So als müsst er beweisen, dass er seinen eigenen Lebenslauf kennt?“
„Ja.“
Milo zuckte mit den Schultern. „Rein statistisch gesehen sind so viele Gemeinsamkeiten zwischen unserem russischen Kollegen und der Leiche von Yonkers West gegen jede Wahrscheinlichkeit, Jesse!“
„Es sei denn, man geht davon aus, dass wir es nicht mit dem echten Marenkov zu tun haben“!“ erwiderte ich.
Wir hatten keine Gelegenheit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.
Milos Handy klingelte. Er nahm das Gespräch entgegen und sagte schließlich: „In Ordnung, Mister McKee. Wir sind schon so gut wie dort.“
„Was ist los?“, fragte ich.
„Das Prepaid Handy wurde aktiviert – und zwar in einem Gewerbegebiet im Norden von Yonkers, direkt am Hudson. Die Firma heißt Super Cargo. Zwei der drei Besitzer habe deutliche Verbindungen zur Kunstmafia.“
„Dann nichts wie los, Milo!“
41
Wir setzten das Rotlicht auf das Dach des Sportwagens. Von den Labors der SRD in der Bronx war es nicht weit bis Yonkers.
Unterwegs nahmen wir noch einem Kontakt mit dem Field Office auf und erfuhren, dass auch das Yonkers Police Department alarmiert worden war.
Als wir das Firmengelände von Super Cargo erreichten, war dort bereits eine wilde Schießerei im Gang. Cops des Yonkers Police Departements verschanzten sich hinter ihren Wagen. Schwaden von Tränengas zogen ihnen entgegen, denn vom Hudson wehte ein leichter Wind, der ihnen das Reizgas direkt entgegen trieb.
Einen der NYPD-Cops hörte man in ein Funkgerät noch Verstärkung rufen.
Offenbar hatten die Kollegen den nötigen Personalaufwand für diesen Einsatz völlig unterschätzt.
Ich stoppte den Sportwagen. Es quietschte dabei.
In geduckter Haltung stiegen wir aus und rannten mit den Dienstwaffen im Anschlag zu unseren Kollegen, die gerade wieder das Feuer eröffnet hatten.
Wir kamen noch rechtzeitig bei den zur Barrikade umfunktionierten Polizeiwagen an, ehe von der anderen Seite geschossen wurde.
Die Sicht wurde schlechter. Der durch die Gasgranate verursachte Nebel machte es fast unmöglich, zu sehen, was auf der anderen Seite geschah.
Schnelle Schritte waren zu hören.
„Trevellian, FBI!“, stellte ich mich den Kollegen der Yonkers Police kurz vor.
„Ich bin Sergeant Loomis!“
„Wie ist die Lage?“
„Es sind zwei Kontrahenten. Der im Maverick schießt nicht mehr. Und der zweite scheint sehr gut ausgerüstet zu sein.“
„Also nichts wie hinterher!“, meinte Milo.
Wir spurteten los, machten dabei einen großen Bogen um die Wolke aus Reizgas.
Hinter den großen Trucks, hatten wir Schutz. Dann ereichten wir das Ende des Trucks und ließen besondere Vorsicht walten.
Milo tauchte kurz dahinter hervor und wurde sofort beschossen.
„Er ist an der Ecke einer Lagerhalle!“, sagte Milo. „Gut dreißig Yards entfernt.“
Ich versuchte es als nächster und tauchte mit der Dienstpistole in Anschlag hervor.
„FBI – Waffe weg!“, rief ich.
Der Flüchtige rannte auf das Hudsonufer zu. Ich fragte mich, ob er ernsthaft erwog, in den Strom zu springen und sich einfach Flussabwärts treiben zu lassen. So fern er nicht gerade Kampfschwimmer war, war das nicht gerade empfehlenswert.
Er wirbelte herum, riss die Waffe in meine Richtung und jetzt erst erkannte ich sein Gesicht.
„Marenkov!“, rief ich.
Er zögerte.
Zwei Sekunden geschah nichts und ich dachte schon, ich hätte gewonnen. Die Waffe in seiner Hand senkte sich, aber nur, um dann plötzlich wieder empor gerissen zu werden.
Er feuerte.
Aber ich war einen Sekundenbruchteil schneller. Während Marenkovs Schuss ins Leere ging, traf meine Kugel ihn in die rechte Brust. Er wurde zu Boden gerissen.
Milo und ich rannten los und wenig später waren wir bei ihm. Er lächelte und umkrallte immer noch seine Waffe. Nur der Aufsatz mit der Laserzielerfassung hatte sich gelöst und lag neben ihm auf dem Boden.
„Es ist aus, Marenkov“, sagte ich. „Oder wer immer Sie auch in Wahrheit sein mögen... Im Übrigen sind Sie verhaftet. Jedes Wort, dass Sie von nun an...“
„Sparen Sie sich den Sermon!“, fuhr er mir in die Parade. „Mein Name ist Kelly James McConroy.“
„Amerikaner?“, fragte ich verblüfft.
„Ja.