Alfred Bekker

Sammelband 7 Krimis: Tuch und Tod und sechs andere Thriller auf 1000 Seiten


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tun gehabt haben, denn er war damals in der Nähe des Tatorts gewesen, hatte sich aber später nicht als Zeuge zur Verfügung gestellt, sondern war stattdessen abgetaucht.

      Das macht doch Sinn, durchfuhr es den Detektiv. Wahrscheinlich hatte er in aller Ruhe und Sicherheit abgewartet, bis die Bombe hochging. Er hatte sich davon überzeugen wollen, dass das Höllending auch explodierte!

      Ob er je einen Gedanken an die Opfer verschwendet hatte?

      Wahrscheinlich nicht, dachte Berringer.

      Er lehnte sich zurück.

      Vanessa hatte es inzwischen aufgegeben, ihn ansprechen zu wollen. In Berringers Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Immer schneller, bis sie einen Strudel bildeten, dessen Sog sich der Detektiv einfach nicht mehr entziehen konnte.

      Und was, wenn er völlig falsch lag? Konnte er wirklich sicher sein, dass dieses Allerweltsgesicht dem Typen von damals gehörte?

      „Ja“, sagte er laut. „Ja!“

      Von den beiden Mitarbeitern der Detektei erntete er dafür befremdete Blicke.

      Berringer schloss die Augen. Er versuchte die Erinnerung zu reaktivieren, sich das Bild wieder ins Bewusstsein zurückzuholen, das er damals gesehen hatte. Aber es war unmöglich.

      „Es ist nichts“, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme. „Wir machen Schluss für heute.“

      6. Kapitel: Eine Gestalt in der Nacht

      Berringer fand kaum Schlaf. Immer wieder wachte er auf, weil er wirres Zeug träumte, das sich allerdings aus Bruchstücken von Erinnerungen zusammensetzte.

      Erinnerungen, die alle etwas mit der Explosion zu tun hatten, die sein ganzes Leben verändert hatte.

      Schließlich sah Berringer ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich weiterhin im Bett hin und her zu wälzen. In dieser Nacht würde er keinen wirklichen Schlaf finden.

      Also zog er sich an und ging an Deck seines Hausboots. Das Wetter hatte sich geändert. Wolken waren aufgezogen, es war nasskalt, und außerdem graupelte es ein bisschen.

      Aber die kühle Feuchtigkeit war wie eine kalte, reinigende Dusche für die Gedanken.

      Hör auf damit, die Eminenz finden zu wollen!, ermahnte er sich. Hör auf damit, in der Vergangenheit herumzuwühlen wie in einem Schlammloch! Du wirst auf nichts stoßen, was dir irgendwie weiterhelfen wird, sondern am Ende nur darin versinken!

      Berringer entschloss sich, ein paar Schritte am Hafenbecken entlangzugehen. Da war es dunkel. Es gab keinen Mond, keine Sterne. All die Lichter der Nacht lagen hinter einem grauen Schleier aus Dunst. Wabernde Schwaden krochen über das dunkle Wasser, dessen Oberflächenbewegung eine fast hypnotische Wirkung auf Berringer ausübte.

      Versuch an nichts zu denken. Lass den Kopf frei werden. Alles raus. Nichts bleibt drin. Nur leerer Raum zwischen den Ohren. Nennt man diesen Zustand Paradies?

      Er spürte, wie er sich allmählich beruhigte.

      Dann bemerkte er die Gestalt.

      Sie stand etwa fünfzig Meter entfernt am Rand des Beckens. Es war ein Mann, so viel glaubte Berringer erkennen zu können. Ein Mann mit einer Baseballkappe.

      Berringer sah nur eine Art Schattenriss.

      Er war von einer Sekunde zur nächsten wieder voll und ganz in der Gegenwart. Die Anwesenheit des Fremden hatte genau das bewirkt, was er zuvor vergeblich zu erreichen versucht hatte: Sein Kopf war leer von all dem Ballast, den seine Seele mit sich herumschleppte. Es gab nur den Augenblick und die Frage, was das für ein Typ war, der da nachts in der Nähe seines Hausboots herumlungerte.

      Berringer ging direkt und mit sehr entschlossen wirkenden Schritten auf den Mann zu. Dieser zuckte zusammen und schien erst relativ spät zu begreifen, dass er entdeckt worden war.

      Zuerst hatte der Detektiv noch in Erwägung gezogen, dass es sich um einen späten Angler handelte. Die Nacht war schließlich ideal zum Fischen, nur das Hafenbecken vielleicht nicht das richtige Revier. Aber der Mann hatte keine Angel bei sich. Er stand einfach da, hatte die Hände in den weiten Taschen seiner Kargohosen vergraben. Außerdem trug er eine dicke Steppjacke. So dick und aufgeplustert, dass sie als tragbarer Airbag durchgehen konnte. Sein Haar war gelockt. Er trug einen Kinnbart und Berringer schätzte sein Gegenüber auf Mitte bis Ende zwanzig.

      An der Kargohose waren Farbflecken, fiel Berringer noch auf.

      „Guten Abend!“, sagt er.

      Der Mann drehte sich einfach um und ging ein paar Schritte.

      „Was wollen Sie hier?“, fragte Berringer.

      Der andere blieb stehen. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, entgegnete er gereizt. Der Wind wehte einen Duft herüber, der irgendeine Mischung zwischen Kognak, Bier und Absinth sein musste. Da wurde ein trockener Alkoholiker ja schon vom Schnuppern wieder rückfällig, ging es Berringer durch den Kopf.

      „Warten Sie!“ forderte er, aber der Mann eilte davon. Er schwankte leicht. Dass er zu viel getrunken hatte, war nicht zu übersehen.

      Berringer entdeckte eine noch glimmende Zigarette auf dem Asphalt, deren Spitze wie ein Glühwürmchen leuchtete, daneben lag ein leeres Streichholzbriefchen.

      Berringer nahm es vom Boden auf. Es war offenbar ein Werbegeschenk, das in irgendeiner Kneipe verteilt wurde. „Kreuzherreneck“, war darauf zu lesen.

      Das Lokal kannte Berringer noch nicht. Aber das würde sich vielleicht bald ändern.

      Am nächsten Morgen war Berringer schon sehr früh wach. Davor hatte er tatsächlich ein paar Stunden wie ein Stein geschlafen. Er zog sich an und frühstückte ein paar Cornflakes, die er noch da hatte. Der lösliche Kaffee war fast alle, aber für eine Tasse reichte es noch.

      Das nächtliche Erlebnis kam ihm jetzt, in der Rückschau, fast wie ein weiterer wirrer Traum vor. Aber das Streichholzbriefchen bewies ihm, dass es sehr real gewesen war.

      Was war das für ein Typ gewesen, und was wollte er bei Berringer? Dass der junge Mann sich zufällig gerade diesen Platz ausgesucht hatte, um über sein Leben nachzudenken und sich vielleicht sogar ins Wasser zu stürzen, daran mochte der Detektiv nicht glauben. Nun, vielleicht war er inzwischen auch schon paranoid geworden, dachte er schließlich, denn je mehr er das Ganze drehte und wendete, desto absurder kam es ihm vor. Er glaubte in irgendwelchen Fotos Gesichter wiederzuerkennen, an die er sich vorher nie erinnert hatte, und war davon überzeugt, dass ein Trinker, der sich wahrscheinlich nur auf dem Heimweg verirrt hatte, ausgerechnet seinetwegen in der Gegend herumstrich. Klang das nicht ein bisschen nach Selbstüberschätzung und Irrsinn?

      Andererseits hatten die Ermittlungen der letzten Tage mit Sicherheit Staub aufgewirbelt. Staub bei Leuten, die ziemlich rabiat vorgingen. Also war Vorsicht geboten.

      Berringer gähnte und genoss jeden Tropfen aus der Kaffeetasse. Er wusste, dass es seine letzte Tasse war, wenn er nicht einkaufte. Aber dazu hatte er im Moment einfach keine Zeit.

      Dann saß er eine ganze Weile einfach nur mit geschlossenen Augen da und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

      Berringer parkte seinen Mitsubishi am Straßenrand. Er war sehr früh dran, die Straßen waren nahezu