mit dem des Gastes. Ambrosio leerte ihn auf einen Zug und ließ sich erneut einschenken. Er hatte grausigen Durst. Volpe lächelte versonnen, während wir die Köstlichkeiten verspeisten.
Ambrosio verschwand dann, ohne lange zu fragen, auf der Toilette, um sich zu erleichtern. Schließlich kam er wieder zurück. Seine Stimmung hatte sich aufgehellt. Er hockte sich und sagte:
»Und was wisst ihr schon, ihr neunmalklugen Hellseher?«
»Nichts Genaues weiß man nicht«, sagte Volpe kichernd, »nur in groben Zügen wissen wir Bescheid. Soll ich es dir berichten? Du könntest uns dann mit Details aufwarten.«
»Gut«, sagte der Tenente, erneut auf beiden Backen kauend, »fang an! Und zum Schluss vergleichen wir die Ergebnisse.«
»Schön, gut, wunderbar«, sagte Volpe und legte die Fingerspitzen aufeinander, »du hast wirklich alles getan, was du deiner Meinung nach tun konntest:
Zunächst hast du sämtliche Huren der Stadt davor gewarnt, ohne Begleiter auszugehen. Gewiss haben sie das beherzigt. Zum Zweiten hast du alles, was in deinem Revier Beine hat, in Zivil gesteckt und in den ‚calli‘ verteilt. Dennoch ist es dem wieder in der Kapuzenjacke steckenden Unhold gelungen, eine Frau zu ermorden. Diesmal war’s keine Nutte. Sie hatte deinen Bericht über den Hurenhass des Mörders für bare Münze genommen und fiel ihm gerade deshalb zum Opfer. Ihr wurde der Hals abgeschnitten und das Kleid vorn auf der Brust aufgeschlitzt.
Wieder wurde keine Vergewaltigung vorgenommen. Er hätte sie ja, das Messer an den Hals gesetzt, in einen Winkel zerren können, um sich an ihr zu vergehen, aber das wollte er nicht, was ziemlich bemerkenswert ist.
Und dann, als sie ihre letzten Schreie ausstieß, sind eure Leute herbei gerannt, aber der ganz gewiss ortskundige Verbrecher hat sich zum zweiten Mal in Nichts aufgelöst, wie gehabt.
Wie du siehst, lieber Ambrosio, wissen wir alles, und das seit unseren Folgerungen von gestern. Nur wüsste ich gerne, wer die Ärmste war und in welcher Gasse das Verbrechen stattfand.«
»Es war die Frau eines Handwerkers; Mutter zweier Kinder. Er mordete in der ‚calle delle vele‘, flüchtete Richtung Canal Grande davon, bog nach rechts ab in die ‚Strada Nuova, rannte hinter den Palazzi, darunter die ‚Cá d‘ Oro, entlang, überquerte auf ihr zum zweiten Mal den ‚Rio di San Felice‘ und tauchte in der ‚Chiesa di San Felice‘ (Kirche des hl. Felix) unter. Wir stürmten sie, aber er war verschwunden. Ich denke, er ist im verwinkelten Viertel hinter der Felix-Kirche zuhause.«
»Oder auch nicht«, sagte Volpe, der den Stadtplan im Kopf hatte, »denn vom ‚Fondamenta di San Felice‘, wo ihr ihn aus den Augen verloren habt, führen drei Brücken in unsere Richtung zurück, zwei davon wieder in die ominöse ‚calla Larga‘, eine dritte in deren Verlängerung, die ‚Calle delle Racchetta‘, wo der ‚Palazzo Papafava‘ aufragt, der Ansitz der Grafen d‘ Inceto. Nicht wahr, die Dame war von heller Haut und hatte blondes Haar, das genaue Gegenteil zur ‚Amsel‘?«
»Ja, auch das stimmt haargenau. Allerdings war sie dunkelblond, hatte dem Blond nicht nachgeholfen und war ziemlich sommersprossig. Das Haar war echt und hatte keinen schwarzen Ansatz an der Kopfhaut.«
»Großartig; du hast dich selber übertroffen«, höhnte Volpe, »und zu welch weiteren Ergebnissen bist du gekommen?«
»Nun, einmal abgesehen von den schon genannten Unterschieden, wurde der Mord auf gleiche Weise verübt. Wie du schon sagtest: Hals abgetrennt; Kleid über der Brust aufgeschlitzt.«
»Womit?«
»Blöde Frage: mit einem Messer! Er hat es natürlich nicht am Tatort liegen lassen.«
»Küchenmesser, Taschenmesser oder ein Bowie Knife, das wollte ich erfahren«, sagte Volpe.
»Woher soll ich das wissen?«
»Von der Art des Schnittes.«
»Was du nicht sagst! Es ist ein glatter Schnitt. Mehr ist nicht zu finden. Er hat keine sonstigen Spuren hinterlassen.«
»Du meinst, mehr hättest du nicht gesehen. Wenn die Ärmste noch bei euch im Kühlraum liegt, hätte ich sie mir gerne einmal angeschaut. Lässt sich das machen?«
»Darum bin ich ja hier«, sagte der Tenente seufzend, »denn wenn nicht bald etwas geschieht, findet der dritte Frauenmord statt. Giulio Marcello, mein Chef, hat mich schon zur Schnecke gemacht und wartet auf Erfolge. Die Schreiberlinge vom ‚Corriere della Sera‘ werden über mich und meine Männer nur so herfallen, wenn es so weiter geht, allen voran dieser widerliche Schreiberling Alberto Scimmia, dieser Affe.
»Gut, gut«, sagte Volpe, »der Doktor und ich werden uns der Sache annehmen. Freilich müssten wir dabei absolut freie Hand haben. Kannst du uns das zusichern?«
Aufatmend sagte Ambrosio, es sei ihm alles recht, wenn nur dieses Morden endlich aufhörte. Volpe und ich standen auf, um uns frisch zu machen. Dann begaben wir uns mit dem Tenente aufs Revier. Venedigs Gassen lagen noch still, einsam und verlassen da. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Schweigend gelangten wir zur Station, wo uns Marcello schon mit geschwollener Rübe und grimmiger Miene erwartete.
5. Teil: Auf dem Revier
Grußlos wortlos führte er uns die Treppe hinunter ins Gewölbe des Kühlraumes. Ein Amtsdiener begleitete uns. Schließlich waren wir an diesem schaurigen Ort angekommen. Zwei Körper waren mit Tüchern bedeckt. Marcello zog sie weg. Darunter waren zwei leblose Körper verborgen gewesen, beide auf dem Rücken liegend. Ich sah hin und musste würgen. Volpe und der Tenente starrten auf die scheußlich zugerichteten Kehlen hinab. Unverkennbar waren es zwei Frauen, wie sie in Gestalt und Aussehen unterschiedlicher nicht hätten sein können:
Die eine war beinahe dunkelhäutig, von gedrungener Figur, eher klein als groß; Arme und Beine dick und kurz; der Körper aus übereinander liegenden Wülsten bestehend; Doppelkinn; dicke Lippen, breite Nase, krauses schwarzes Haar.
Leuchtend weiß die Haut der anderen, das lange Haar dunkelblond mit einem Hauch von rötlich, ein sommersprossiges feines Gesicht mit schmaler Nase und filigranen Lippen; der Körper schlank und mit langen Beinen. So erschien die zweite. Es war schmerzlich für mich, eine so hübsche Frau in der Blüte des Lebens hinweg gerafft zu sehen.
Volpe beugte sich erst über das Gesicht der einen, dann der anderen, um sie in Augenschein zu nehmen. Insbesondere die Schnitte betrachtete lange und gründlich durch seine Lupe. Dann zauberte er ein Maßband aus der Tasche hervor und legte es erst neben die erste, dann neben die zweite Leiche, um es sorgsam wieder einzurollen. Schließlich straffte er sich und sagte:
»Der Mörder hat meine Größe und verwendet ein und dieselbe Waffe. Wenn wir ihn fest genommen haben, wird es sich zeigen, dass dieser Dolch scharf wie ein Rasiermesser ist, aber in der Mitte der Schneide eine Macke aufweist.
Indem er zwei so gegensätzliche Frauen umbrachte, wollte er die Meldung, er habe etwas gegen Huren, entkräften. Ob er ganz allgemein etwas gegen Frauen hat, was man mit einbeziehen sollte, muss als unbewiesen in der Schwebe bleiben.«
Ambrosio und Marcello schüttelten die Köpfe. Marcello hub in seinem Kohlenkellerbass an:
»Mein lieber, guter Volpe, bekanntlich unterscheiden sich unsere Methoden von den deinigen in dieser oder jener Kleinigkeit, aber deine Mutmaßungen über die Größe des Täters und die Details seiner Waffe entbehren doch wohl jeder Grundlage.«
»Keineswegs«, sagte Volpe bedächtig, »wenn ihr euch die Schnitte nur genau genug anseht, werdet ihr umgehend zu meiner Meinung übergehen.«
Der Tenente und Marcello beäugten die Kehlen der Ermordeten erneut, ohne irgendetwas Neues zu bemerken. Ich schloss mich ihnen an und kam ebenfalls zu keinen bemerkenswerten Ergebnissen. Volpe seufzte und sprach:
»Fangen wir mit der Größe der dahin Gemeuchelten an!