trotzdem nutzt?“, gab ich zu bedenken, etwas überrascht von der Heftigkeit seiner Anklage. „Bisher wissen wir doch alle noch gar nicht, was überhaupt in diesem Buch zu finden ist. Meinst du nicht auch, dass du jetzt reichlich viel Aufhebens machst? Im Übrigen ist dieses Buch in erste Linie nur für mich wichtig. Sollte ich es dir oder dem Professor überlassen, wäre es ein Entgegenkommen, keine Verpflichtung. Obwohl ich einsehen kann, dass die Wissenschaft ein großes Interesse daran hat. Sollte ich jedoch sehen müssen, dass darüber ein Streit entbrennt, werde ich mich leicht entschließen können, niemanden daran zu lassen.“
Nun lag auch unverhüllte Wut auf mich in seinem Blick. Sollte ich mich denn während unseres Abenteuers so in ihm getäuscht haben? Waren seine Hilfsbereitschaft und seine Rettung unten im Labyrinth nichts weiter als Eigennutz eines ehrgeizigen Assistenten? Eigentlich hatte ich gedacht – und wohl auch gehofft -, dass er der Mann wäre, mit dem ich den Versuch einer Beziehung wagen könnte. Es war jedoch erschreckend für mich mit anzusehen, wie schnell er sein wahres Gesicht zeigte. Offensichtlich war er tatsächlich nur daran interessiert eine Entdeckung in die Hand zu bekommen, mit der er sich selbst einen Namen machen konnte. Dazu wollte er mich benutzen. Ich war bestürzt, und es tat verdammt weh.
Gordon trat jetzt näher an mich heran, seine Stimme wurde bittend, und er streckte eine Hand aus. „Jessica, willst du das wirklich zulassen, dass dieser Mann da sich mit fremden Federn schmückt? Kannst du einfach zusehen, wie er der Fachwelt eine neue Entdeckung präsentiert, an der er weder einen Anteil noch ein Recht hat?“
Unwillkürlich wich ich in meinem Sessel zurück, obwohl das eigentlich nicht ging. „Ich sagte gerade schon, dass dieses Buch in erster Linie für mich wichtig ist, aus welchen Gründen, geht dich gar nichts an; jetzt schon gar nicht mehr. Aber ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht, indem ich zuließ, dass du einen Anteil daran hattest. Es tut mir leid, aber unter diesen Umständen fühle ich mich nicht mehr an meine Zusage gebunden, dir das Buch für einige Zeit zu überlassen.“
Er starrte mich an. „Was habe ich getan, Jessica? Was hat der Professor dir erzählt, dass du plötzlich gegen mich eingestellt bist? Habe ich dir nicht das Leben gerettet?“
„Und ich das deine. Da besteht wohl keine Verpflichtung mehr. Nun wäre ich dir dankbar, wenn du gehst. Ich musste über alles nachdenken.“
Seine Miene verhärtete sich. „So sieht das also aus, wenn eine vornehme Lady ein Versprechen abgibt? Es handelt sich ja auch nur um einen normalen Menschen, da kann man schon mal darüber hinweggehen. Wen stört das auch? Eine feine Gesellschaft ist das.“
Professor Hagen stellte sich schützend vor mich. „Gordon, Sie vergessen sich und das bisschen Anstand, das Sie bisher bewiesen haben. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass die junge Lady nicht sehr lange ein schlechtes Gewissen haben wird, wenn ich ihr von dem Vorfall mit Lord Winterbottom erzähle. Die Voraussetzungen waren ähnlich, oder nicht? Ich habe Sie geschützt und Ihnen eine letzte Chance gegeben. Offenbar habe ich da ebenfalls einen Fehler gemacht. Gehen Sie jetzt bitte.“
Gordon wich zurück. Angst funkelte in seinen Augen. Ich wollte gar nicht mehr wissen, auf welchen Vorfall der Professor anspielte. Es schien jedoch eine Tatsache zu sein, dass Gordon schon vorher versucht hatte Ruhm zu ernten, der ihm in dieser Form nicht zustand.
„Das war noch nicht das letzte Wort“, stieß er hervor. „Ich habe meinem Anteil hier geleistet, und ich werde bekommen, was mir zusteht.“
„Bleibt nur noch die Frage, was Ihnen tatsächlich zusteht.“ Plötzlich stand mein Vater groß und respektheischend vor dem Mann. „Ich denke, Sie haben genug Unfrieden in mein Haus gebracht. Sie wollen also auf der Stelle meinen Grund und Boden verlassen. – Henson.“ Augenblicklich öffnete der Butler die Tür. „Der junge Mann möchte gehen. Sie überzeugen sich bitte, dass er das Anwesen auch wirklich verlässt.“
Der Butler nickte wortlos. Er war sicher, später eine ausführliche Erklärung zu bekommen. Wie ich wusste, bestand zwischen ihm und Dad seit langem eine Freundschaft der besonderen Art. Nur in der Abgeschiedenheit einer trauten Zweisamkeit spät am Abend fielen die Schranken zwischen Lord und Butler.
Als die Tür sich hinter Gordon schloss, war es im Raum, als würde eine unsichtbare Spannung und Bedrohung verschwinden.
„Was war das?“, fragte ich verstört. „Ich habe gedacht, Gordon wäre...“ Ich brach ab. Es war müßig, jetzt über Gefühle zu sprechen. Professor Hagen drückte beruhigend meine Hand.
„Sie müssen darüber nicht reden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich im Moment verraten und verkauft vorkommen.“
„Das ist noch leicht untertrieben“, schnaubte ich. „Vorhin habe ich schon einmal darauf hingewiesen, dass ich eine Erklärung erwarte. Wie sieht es jetzt damit aus?“
Auffordernd schaute ich den Mann an. Wieder fiel mir auf, dass er außerordentlich attraktiv war, auf wenn er noch immer eine gewisse Arroganz an den Tag legte. Ich spürte, wie mein Vater mich tröstend in die Arme zog und fühlte mich plötzlich zutiefst erschöpft und ausgelaugt. Das alles war doch ziemlich viel, was ich an einem Tag hinter mich gebracht hatte. Und doch – obwohl ich heute in unmittelbarer Lebensgefahr geschwebt hatte, erschien mir das alles nicht so schrecklich wie die gerade erlebte Szene. Unaufgefordert reichte Dad mir ein Glas Whisky, und das scharfe belebende Getränk regte mich etwas an.
James Hagen legte das Buch auf den kleinen Tisch beim Kamin und setzte sich mir gegenüber, mein Vater blieb auf der Lehne meines Sessels sitzen und massierte sanft meinen Nacken, um die Verkrampfung etwas zu lösen. Er wusste immer ganz genau, was er tun musste, der Gute.
„Ich hatte über Ihren Besuch und Ihre ungewöhnliche Bitte nachgedacht, Lady Jessica, doch ich musste zugeben, dass ich zunächst nicht so recht den Sinn erkennen konnte. Also rief ich Ihren Vater an, der anfänglich einigermaßen überrascht war, dass Sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen hatten. Allerdings konnte er recht schnell die richtige Vermutung äußern – mag das Ganze auch höchst merkwürdig und seltsam klingen. Sehe ich das richtig, dass Sie dieses Buch aus einer ungewöhnlichen Lage geborgen haben, um drei Toten zu helfen?“
James richtete seine Augen aufmerksam und verständnisvoll auf mich. Er hielt mich also nicht für verrückt?
Ich nickte.
„Das scheinst eine edle Sache zu sein“, lächelte er, und plötzlich wirkte er jungenhaft und verletzlich. Die Jahre fielen von ihm ab, und er war nicht mehr der unnahbare seriöse Professor, sondern ein humorvoller interessanter Mann mittleren Alters.
„Wie wollen Sie darüber urteilen?“, brachte ich einen Einwand hervor.
„Sie sind nicht die erste, die so etwas erlebt. Und Ihr Vater hat ebenfalls einschlägige Erfahrungen vorzuweisen. Deshalb konnte er mir ja auch relativ rasch erklären, um was es ging.“
Ich schaute Dad fragend an. „Was hast du eigentlich mit denen zu schaffen?“
„Ich wurde auch schon gefragt, ob ich einen Schatz will, im Gegenzug für die ewige Ruhe der Geister. Aber ich gebe zu, ich habe niemals den Mut besessen, mich selbst in Gefahr zu bringen, um ein paar Gräber zu finden. Dennoch habe ich von Zeit zu Zeit Kontakt mit Sir Lawrence und seinen Kameraden.“
Ich lachte auf und merkte selbst, dass es fast hysterisch klang.
„Habe ich mich jetzt eigentlich total lächerlich gemacht? Es klingt doch alles absolut verrückt, oder?“
„Nein, ich glaube nicht“, warf James ein. „Selbst ich als Wissenschaftler musste zugeben, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die nicht alle zu erklären sind. Sehen Sie, ich habe in den Hinterlassenschaften alter Völker geforscht und dort erstaunliches gefunden. Ich wäre ein Narr, würde ich leugnen, dass es etwas gibt, was außerhalb der greifbaren Realität steht. Und vielleicht ist es eine Art von Gefühl oder etwas Ähnliches. Schließlich sind Liebe und Hass auch intensive Gefühle, die niemand erklären kann, die aber auch von niemand geleugnet werden.“ Dabei schaute er mich mit einem seltsamen Blick an, und mir lief ein Schauder über den Rücken.
Närrin,