kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen?
Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle. In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
"Wann brichst du denn nach Gilford Castle auf?", fragte Tante Lizzy mich.
"Heute Abend. Jim und ich sind zu einer Art Party eingeladen. Ich bin schon richtig gespannt."
"Kann ich verstehen."
"Weißt du, es ist beinahe ein wenig so, als wäre die Zeit zurückgedreht worden ..."
"Ich weiß, was du meinst ..." Sie nahm meine Hand und auf ihrem Gesicht stand ein mildes Lächeln. "Ich hoffe nur ..."
Sie zögerte aus irgendeinem Grund.
Ich erwiderte ihren Blick.
"Was?"
"Dass du nicht zu enttäuscht zurückkehrst. Manchmal ist das so. Man hat etwas in der Erinnerung mit einer Art Heiligenschein ausgestattet und wenn man man dann der Wahrheit begegnet ..."
"Ich weiß", murmelte ich. "Aber ich verspreche dir zumindest, dass ich nicht kreischen werde ... Wenigstens nicht so doll, dass ich in Ohnmacht falle!"
Wir lachten beide.
Dann glitt mein Blick zur Uhr.
Tante Lizzy erriet meinen Gedanken – und das hatte wohl nichts mit übersinnlicher Wahrnehmung zu tun, sondern einfach nur damit, dass wir uns sehr gut kannten.
"Du musst los, nicht wahr?"
Ich nickte. "Ja."
"Kommst du hier noch vorbei, bevor du nach Kent fährst?"
"Auf jeden Fall!"
3
Das Verlagsgebäude, in dem die Redaktion der London Express News untergebracht war, lag in der Londoner Lupus Street.
Ich stellte den roten, etwas altertümlichen 190er Mercedes, den Tante Lizzy mir geschenkt hatte, auf dem großen Parkplatz ab und lief dann mit ziemlich schnellen Schritten in Richtung des Haupteingangs.
Es war ein feuchter, diesiger Tag und die Kühle drang durch meine etwas zu dünne Kleidung.
Ich war froh, als ich endlich drinnen war.
Lange Korridore ging ich entlang, dann mit dem Aufzug hinauf bis in die Büroetage, die der Express-News-Redaktion vorbehalten war. In einem weitläufigen Großraumbüro hatte ich auch irgendwo meinen Schreibtisch. Es herrschte ein ständiges hektisches Kommen und Gehen.
Ich hielt nach Jim Field Ausschau, einem ebenfalls bei den Express News angestellten Fotografen, mit dem ich häufig zusammengearbeitet hatte und der mich auch auf der Fahrt nach Kent begleiten würde.
Ich hatte im Hinblick auf die Robert-Clayton-Story noch einiges mit ihm zu besprechen.
Allerdings konnte ich ihn nirgends entdecken.
Ich seufzte.
Und dann stieß ich plötzlich mit jemandem zusammen. Meine Handtasche fiel zu Boden und da ich sie nicht richtig geschlossen hatte, fiel die Hälfte des Inhalts hinaus. Ein paar Hustenbonbons, die ich bei diesem Wetter vorbeugend nahm, ein Taschentuch mit meinen Initialen, mein Schlüsselbund, der Presseausweis und ein Tamagotchi, das ich unglücklicherweise von den Kollegen zum Geburtstag bekommen hatte. Und obwohl mein Verstand mir tausendmal sagte, dass der kleine Hund auf dem Display nicht wirklich lebte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihn sterben zu lassen.
Der Inhalt einer Handtasche ist etwas sehr Persönliches.
Etwas, das eigentlich niemanden etwas angeht.
Der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, war groß und dunkelhaarig. Der Blick seiner grüngrauen Augen war ruhig und erinnerte mich an das Meer.
"Tut mir leid", sagte er, bückte sich und half mir und schickte sich an, die Sachen wieder in die Tasche zu räumen, was mir beinahe etwas unangenehm war. Er gab mir die Tasche und lächelte dabei charmant.
"Ich hätte besser aufpassen sollen, Mister ..."
"Hamilton. Tom Hamilton."
"Patricia Vanhelsing!"
"Sie arbeiten auch hier, bei den Express News?"
"Ja ..." Ich sah ihn etwas überrascht an und fügte dann hinzu: "Was heißt hier auch? Ich habe Sie hier noch nie gesehen, Mr. Hamilton."
"Nennen Sie mich Tom."
"Meinetwegen."
Er zuckte die Achseln und ich versuchte sein Alter zu schätzen. Mitte dreißig!, dachte ich. Er sah gut aus. Äußerst attraktiv.
Aber man konnte auf den ersten Blick merken, dass er nicht zur Sorte der Sunnyboys gehörte, die auf jeder Party für kurzweiligen Smalltalk gut waren.
Und wenn auch ein charmantes Lächeln seine Lippen umspielte – so schien ihm doch auch etwas Düsteres, beinahe Geheimnisvolles anzuhaften.
Jemand, der viel erlebt hat!, dachte ich.Und jemand, der sich nicht gleich in die Karten schauen lässt!
"Das ist mein erster Tag hier bei den Express News", meinte er.
"Dann werden wir uns in Zukunft also öfter über den Weg laufen."
"Das nehme ich an."
Einen Augenblick lang begegneten sich unsere Blicke ...
Dann gellte ein Ruf durch das Großraumbüro.
"Mr. Hamilton! Ist da irgendwo Mr. Hamilton? Sie sollen dringend zum Chef kommen!"
"Sie sollten Mr. Swann nicht warten lassen!", sagte ich. "Das kann er nämlich nicht leiden!"
Er nickte.
"Habe ich inzwischen schon gemerkt!", erwiderte er, drehte sich herum und ging durch das Labyrinth der Schreibtische.
Ich sah ihm einen Moment lang nach und als ich dann nach wenigen Schritten meinen Schreibtisch erreichte, lehnte dort niemand anderes als Jim Field, der Fotograf.
Er war flachsblond und hätte dringend mal wieder einen Frisör aufsuchen müssen. Der Drei-Tage-Bart, die zerschlissene Jeans und das zerknitterte Jackett, dessen Revers von der Kameratasche völlig ruiniert war, gaben ihm ein unkonventionelles Äußeres.
"Hallo, Patti!", sagte er.
"Hallo!"
Sein Blick war ebenfalls auf Hamilton gerichtet, der nun gerade hinter der Tür zum Büro von Michael T. Swann verschwand, seines Zeichens Chefredakteur der London Express News.
"Ein komischer Kerl, dieser Neue", meinte er.
"Wieso?"
Jim zuckte die Achseln. Seine blauen Augen verengten sich etwas. "Ich weiß nicht ... Irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Vielleicht mag ich ihn auch einfach nicht. Ich hoffe nur, dass Swann ihm den unangenehmsten Job gibt, der zurzeit