Boris Kaehler

Führen als Beruf


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verstanden hat. Ein Bauarbeiter, der die von ihm selbst ausgehobene Grube kontrolliert, betreibt damit Management seiner eigenen Stelle und damit seiner eigenen Ausführungsarbeit. Sein Vorarbeiter managt den Bautrupp, indem er diese Selbstführung seiner Mitarbeiter komplementär absichert. Nur so wird ein Schuh daraus, anders ist der Grundgedanke einer steuernden Querschnittsfunktion nicht aufrechtzuerhalten.

      Allerdings ist damit die Frage nach der rein sachbezogenen Restmenge noch nicht beantwortet. Wir benötigen dafür weitere Managementprämissen, die in Abbildung 2 mit dem Dreiklang „konstitutiv – strategisch – operativ“ bereits angedeutet sind. Wir kommen aber erst in Teil IV darauf zurück. Dort wird auch auf die verbreitete Fehleinschätzung eingegangen, Personalführung sei eine Art neutraler Hygienefaktor, der zwar in allen Betrieben notwendig, aber auch ähnlich sei. Das Gegenteil ist der Fall: Personalführung ist einer der wesentlichen Wettbewerbs- und Qualitätshebel, denn sie beeinflusst nicht nur die Kostenstruktur, sondern auch die Ergebnisse einer Organisation massiv. An dieser Stelle soll zunächst die Feststellung ausreichen, dass es sich bei der Personalführung um eine Teilmenge der Gesamtaufgabe der Unternehmensführung handelt. Diese Teilaufgabe könnte freilich bedeutsamer nicht sein, denn die zu führenden Mitarbeiter betreiben schließlich das eigentliche Geschäft der geführten Organisationseinheit.

      Führung ist im Kern – aber auch nur im Kern – ein zeitloses und universelles Phänomen17. Die grundlegenden Vorteile der Selbststeuerung gegenüber direktiver Fremdbestimmung wurden z. B. schon vor mehr als 100 Jahren diskutiert. Wer behauptet, im Kontext moderner Arbeitswelten sei völlig anders zu führen als in traditionell organisierten Betrieben, liegt damit – wissentlich oder aus Unkenntnis – völlig daneben. Natürlich sieht Führung ganz anders aus, wenn unterschiedliche Menschen sie in unterschiedlichen Kontexten ausüben. Die sieben Elemente der Komplementären Führung lassen sich aber in allen Branchen, in Organisationen unterschiedlichster Größe und in fremden Kulturen umsetzen.

      Komplementäre Führung ist zeitlos und kulturunabhängig.

      Das ist erstens deswegen möglich, weil es Spielraum bei ihrer Ausgestaltung gibt. Sie lassen sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen, Erfordernissen und Gepflogenheiten anders gruppieren und benennen. So sollten Führungskräfte z. B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen abhalten. In welchen Abständen diese stattfinden, ob andere Führungsaktivitäten daran gekoppelt sind und wie genau sie genannt werden, ist hingegen eine andere Sache. Solche Ausgestaltungsvarianten muss man im jeweiligen Unternehmen festlegen, es braucht dafür keine allgemeinen Empfehlungen. Zum zweiten, in der Einleitung war schon die Rede davon, darf man nicht anfangen, die situative und persönliche Umsetzung von Führungselementen zu standardisieren. Diese ist kultur-, personen- und kontextabhängig, und als Führungskraft müssen Sie mit schüchternen Intellektuellen im Video-Chat Berlin-Dubai anders umgehen als mit aufsässigen Vorarbeitern bei Betriebsversammlungen in Wuppertal. Ohnehin führt jeder und jede unterschiedlich, was an unseren verschiedenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Rahmenbedingungen liegt. Auch ist der Umgangston auf dem Bau rauer als in einer Privatbank und dort anders als in einem Start-up. Solche Variabilität betrifft aber nicht den Kern von Führung, sondern nur, wie diese praktiziert und gelebt wird. Dass vieles allgemeingültig ist, sich eine situative und persönliche Standardisierung aber verbietet, wurde ja in der Einleitung deutlich.

      Viele Führungsprinzipien sind universell, ihre Anwendung ist es nicht.

      Natürlich hat aber auch über den Kern von Führung nicht jeder die gleichen Vorstellungen, und es gibt Unternehmens- und Landeskulturen, die mit den Prinzipien der Komplementären Führung nichts anfangen können. Diese sind zwar überall anwendbar, aber nicht mit allem und allen kompatibel. Ein Team oder eine Organisation mit einer differierenden Kultur kann man sanft auf andere Bahnen lenken. Ist hingegen die gesamte Landeskultur so geprägt, wird man es schwer haben und bestenfalls eine Insel andersartiger Organisationsprinzipien schaffen. So wird Führung z. B. in vielen osteuropäischen und asiatischen Regionen als direktive Fremdbestimmung und Entscheidungszentralisation verstanden. Ein weiteres Beispiel ist die US-amerikanische Führungsphilosophie, die traditionell auch die hiesige Führungsliteratur dominiert. Sie ist durch starkes Pathos, christlich-fundamentale Werte, Glauben an Vision und Inspiration, harte Resultatorientierung und eher rudimentäre arbeitsrechtliche Vorgaben geprägt. Anhänger dieser kulturellen Denkrichtungen werden mein Buch mit Skepsis lesen. Das Komplementäre Führungsmodell kommt ja eher nüchternsäkularisiert daher, betont den Wert der Selbststeuerung, aber auch der klassische Positionsmacht, und bildet die Wertentscheidungen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts sowie der sozialen Marktwirtschaft ab. Es handelt sich also gewissermaßen um eine europäische Führungsphilosophie. Man muss auch immer schauen, welche Ziele mit Führung verbunden werden. Das betriebswirtschaftliche Ideal einer nachhaltigen Maximierung der Arbeitsleistungen und Stakeholder-Bedürfnisse wird sicher nicht von allen Organisationen und Führenden geteilt, und muss es ja auch nicht. Wenn aber gar nicht die Resultate, sondern z. B. die Versorgung von Positionsinhabern das Führungssystem legitimieren und prägen, bevorzugt man auch andere Konzepte. Grundsätzlich aber gilt: Komplementäre Führung ist in allen Branchen, zu allen Zeiten und in allen Ländern anwendbar, und zwar so, wie die Branche, die Zeit und das Land es erfordern.

      Komplementäre Führung lässt sich als europäischer Gegenentwurf verstehen.

      Apropos Zeit: Leben wir neuerdings wirklich, wie uns vermeintliche Expertinnen und Experten ständig versichern, in einer VUCA-Welt? Sind Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität tatsächlich so viel größer als früher? Natürlich bringt die digitale Transformation große Veränderungen der Wirtschaft und des Arbeitslebens mit sich. Ob diese Änderungen freilich so viel dramatischer sind als z. B. jene, die in vergangenen Epochen mit Kriegswirtschaft, Weltwirtschaftskrisen und Globalisierung einhergingen, lässt sich bezweifeln. Mehr als seine Kunden, sein Unternehmen und seinen Job kann man im Wirtschaftsleben nicht verlieren, und die jeweiligen historischen Gründe dafür dürften den Betroffenen herzlich egal sein. Natürlich geht die digitale Transformation – wie alle gesellschaftlichen Umwälzungen zuvor – mit besonderen Anforderungen einher. Neue Führungssysteme braucht man dafür allerdings nicht. Um sich für die neue Wirtschaftswelt zu rüsten, müssen Organisationen sich wettbewerbsfähig aufstellen, effizient und effektiv arbeiten, Absatz-, Produktions- und Ressourcenprozesse im Griff haben und Innovation, Kundennähe und Selbststeuerung zum Prinzip erheben. Nichts davon ist neu, alle wesentlichen Aspekte wurden in 100 Jahren Managementgeschichte eingehend thematisiert. Die Tatsache, dass viele Unternehmen, Behörden und Vereine sich mit den erforderlichen Umstellungen schwertun, hat wenig mit Technologie- und Wertewandel zu tun und viel mit Ignoranz gegenüber evidenten Grundsätzen der wirtschaftlichen Betriebsführung. Feedbackschleifen und Kreativität sind keine Erfindung des neuen Millenniums. Die Digitalisierung bewältigen auch nicht die am besten, die die meisten „Design Thinking“-Workshops veranstalten, Agile Coaches beschäftigen oder Hängeschaukeln aufhängen. Digitale Transformation erfordert kein wildes Herumexperimentieren, sondern durchdachte Managementstrukturen.

      Die Digitalisierung erfordert gute Führung, keine neue.

      Leider gibt es auf dem Marktplatz der Ideen auch sonst sehr viel ausgemachten Unsinn. Auf wenigen Gebieten wird so viel Pseudowissen verbreitet wie auf dem der Führung. Eine Generalabrechnung will ich Ihnen ersparen, aber einige Irrlehren müssen Sie kennen, um nicht vom nächsten Bestseller oder Managementtraining gleich wieder aus der Verständnisbahn geworfen zu werden. Diese haben nämlich die unerfreuliche Tendenz, die ewig gleichen Säue durchs Dorf zu treiben, sie aber immer hübsch neu zu verkleiden. Wer dies nicht durchschaut, fühlt sich schnell wie ein Ignorant, ganz wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Eine bewusst pointierte Verkürzung aus meiner Sicht wenig brauchbarer Führungslehren bietet Tabelle 1. Nicht überall ist der Kaiser splitternackt, aber so prächtig, wie man uns einreden will, kleiden ihn seine Unterhosen auch nicht.

      Besonders glattes Terrain betritt der Laie dort, wo von „Leadership“ die Rede ist. Zwar handelt es sich zunächst einmal nur um die wörtliche Übersetzung von Führung, mithin