in Zeitlupe ließ er die Waffe sinken. Sharon sah, dass seine Augen sich mit Wasser füllten. Seine Lippen zuckten. Ohne sie aus den Augen zu lassen ging er zum Glastisch. Er griff nach einer CD-Hülle und hob sie hoch. Es war die Scheibe von Death can dance.
„Du Wahnsinniger!‟, sagte Sharon. „Warum hast du das alles getan?!‟ Sie brüllte, außer sich vor Verzweiflung, Wut und Trauer. „Du Wahnsinniger ...!!‟
52
Ich hatte schon fast den letzten Treppenabsatz erreicht, als ich Sharon schreien hörte. Ich zuckte zusammen und blickte nach oben. Ein Schuss ... Ein Schuss aus Sharons Wohnung!
„Sharon!!‟ Blitzschnell kletterte ich die Treppe wieder hinauf. „Sharon!!‟ Ich zwängte mich durch das Fenster. „Sharon!!‟ Eine Blutspur zog sich aus dem Wohnzimmer bis zur Wohnungstür. Die stand offen. „Sharon!!‟ Ich stürzte ins Wohnzimmer.
Sharon hockte vor der Tür zum Schlafzimmer auf dem Boden. In ihrem Schoß hielt sie ihre Beretta fest. Neben ihr auf dem Teppich lag eine CD-Hülle. Die düstere Musik, die ich neulich bei ihr gehört hatte. Sie weinte hemmungslos.
„Sharon ...‟ Ich schloss die Arme um sie und drückte sie an mich.
„Raphael ....‟, schluchzte sie. „Ich hab auf ihn geschossen.‟
53
Raphael wankte aus dem Haus. Ismael fing ihn auf und schleppte ihn zum Van. Er riss die Seitentür auf und schob seinen Bruder ins Innere des Wagens. Er zog die Tür zu. Blut klebte am Griff. Ismael starrte seinen Hände an – blutig. Er wischte sie am Mantel ab.
Schnell lief er um den Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer.
„Raphael? Raphael?‟ Nur ein Stöhnen drang von hinten aus dem Wagen.
Ismael steuerte aus der Parklücke. Er schaltete das Autoradio ein. Vielleicht hörte er in den Nachrichten etwas, was er wissen musste.
„... die ganze islamische Gemeinde der Vereinigten Staaten ist entsetzt und zutiefst erschrocken über die Bluttaten in New York City ...‟ Ein Mann sprach mit nahöstlichem Akzent. „... niemals würde unser Prophet es gutheißen, wenn seine Anhänger Andersgläubige um ihrer Ansichten Willen töten, und seien diese noch so verwerflich ...‟
Ismael fuhr zwei Häuserblöcke weiter. Dort bog er rechts in eine Seitenstraße ein und parkte den Van am Straßenrand.
„Raphael?‟ Er kletterte in den Laderaum hinein. „Islamische Eroberer waren immer gerecht und erbarmungsvoll. Überall dort, wo der Islam die Macht übernahm, gab es religiöse Minderheiten, die von islamischen Regierungen beschützt wurden.‟
Raphael lag zusammengekrümmt auf dem gerippten, dreckigen Metallboden. Ismael drehte ihn auf den Rücken. Sein dunkles Hemd war nass von Blut. Ismael riss es auf. Blut sprudelte aus einem Loch unter dem Herzen.
„Raphael!‟ Ismael drückte den Körper des Bruders an sich. Er hörte seinen rasenden Herzschlag stolpern.
„... streitet mit den Andersgläubigen auf eine möglichst gute Art, gebietet der Koran, und: Gott liebt die, die gerecht handeln.‟
Ismaels Lippen zitterten. „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Erbarmer, dem Barmherzigen ...‟ Wie von selbst begann etwas in ihm zu beten.
„Ich werde es zu Ende bringen‟, flüsterte er. „Ich verspreche es dir ...‟
Raphaels Wunde war tödlich, daran gab es keinen Zweifel. Aber er konnte ihn nicht einfach hier im Wagen liegen lassen. „Du wirst als Märtyrer ins Paradies eingehen ...‟
„... diese Mörder haben nicht gerecht gehandelt, und als Imam der islamischen Gemeinden von Nordamerika wende ich mich an meine Mitbürger und distanziere mich im Namen Allahs und im Namen seines Propheten Mohammeds und im Namen aller vernünftigen Moslems von diesen überaus schrecklichen Bluttaten ...‟
„Ich bring es für uns beide zu Ende.‟ Ismael holte seine Jericho heraus und schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf. „Allah sei deiner Seele gnädig.‟ Er setzte den Lauf der Waffe auf Raphael Schläfe und schloss die Augen. Der Körper seines Bruders bäumte sich kurz auf, als er abdrückte. Dann erschlaffte er.
Ismael kletterte zurück hinter das Steuer. „Sie hörten ein aktuelles Interview mit dem Imam ...‟ Er schaltete das Autoradio aus. Unter dem Beifahrersitz zog er eine Uzi heraus und steckte sie unter seinen Mantel. Er betete murmelnd vor sich hin, als er die Straße hinunterlief.
„... der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichts. Wir dienen Dir, und Dich bitten wir um Hilfe ...‟
54
Sharon zitterte am ganzen Körper. Stockend erzählte sie. Ich hatte viele Geschichten gehört im Laufe der Jahre beim FBI. Und ich hatte viele Geschichten erlebt. Die Geschichte, die Sharon erzählte, fuhr mir in alle Knochen.
„Das Leben kann so grausam sein, Jesse‟, flüsterte sie. „Sag selbst ...‟
„Ja‟, sagte ich. „Unglaublich grausam. Und unglaublich schön.‟
Ich half ihr hoch. Arm in Arm liefen wir die Treppe hinunter. „Und ihr habt euch all die Jahre nicht gesehen?‟
„Nein. All die Jahre nicht. Nicht gesehen, nicht geschrieben, nicht telefoniert.‟ Sie seufzte tief. „Ich hatte ihn aus meinem Leben gestrichen. Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet.‟
Man kann nichts aus seinem Leben streichen, nichts – nicht eine Sekunde, lag es mir auf der Zunge. Ich schluckte meine Sonntagsweisheit hinunter. Dass es sich bei ihr um eine alltägliche Wahrheit handelte, hatte Sharon eben am eigenen Leib erfahren.
Unten an der Haustür begegneten wir Milo, Jay und Leslie.
„Wir