Held des ersten Vogelnest-Romans (1672), der aufgrund praktischer Erfahrung zu dieser skeptizistischen Sicht menschlicher Urteile kommt, kann sie gleichwohl noch nicht auf seine Einstellung zu den Juden anwenden; nach ersten Skrupeln wegen seines Diebslebens nimmt er sich vor, sich künftig nicht mehr an Christen, sondern an Juden schadlos zu halten:218
Ich schlug mich auff die rechte Hand gegen der Polnischen Gräntze der Meinung einem reichen Juden desselbigen Königreichs so viel Ducaten außzuwischen/als ich würde tragen können/dann ich fieng an so Gewissenhafftig zu werden/daß ich durchauß keinen Christen bestehlen wolle/er hätte dann ärger als ein Jud seyn müssen/dergleichen ich mir aber nirgends zu finden getraute/und solte ich gleich alle Winckel der Welt außlauffen.
Erst sein Bekehrungserlebnis eröffnet ihm die Einsicht auch in diesen Selbstbetrug: „ich hatte […] keinen Willen mehr zu sündigen/viel weniger den Juden oder sonst jemand sein Geld zu stehlen“,219 zeigt aber auch die Skepsis des Autors gegenüber Hoffnungen auf rasche Veränderung der Einstellungen und Gesinnungen. Mehr noch: im zweiten Vogelnest-Roman führt Grimmelshausen vor, daß selbst ein so grundsätzlicher Gesinnungswandel wie ein Bekehrungserlebnis die Vorurteile gegenüber den Juden nicht tangieren muß.220
In diesem seinem letzten Erzählwerk (1675) hat Grimmelshausen, die Klage seines Juden Aaron aufnehmend, einen christlichen Fernhandelsherrn vom Oberrhein zum Gegenstand der satirischen Kritik gemacht. Dieser Kaufmann, der in der Ich-Form seine Bekehrungsgeschichte erzählt, vereinigt, ohne es selbst zu merken, alle bösen Eigenschaften, die Christen traditionellerweise den Juden nachsagen und die wir noch bei Zedler aufgereiht fanden: Geldgier und sexuelle Gier, Rachsucht, Grausamkeit, kaltes Nützlichkeitsdenken, Verschlagenheit, Betrügerei, bigotte Religiosität, Aberglauben und Teufelsbündnerei.221 Der Autor versetzt ihn nach Amsterdam, in die Welt der reichen, aber dennoch frommen vornehmen sephardischen Juden. Er idealisiert diese nicht, sondern zeigt satirisch auch deren Schwäche auf, ihre Leichtgläubigkeit in Erwartung des Messias, der sie in der Realität (Auftreten Sabbatai Zwis 1665, zehn Jahre vor Erscheinen des Romans) und im Roman zum Opfer fallen. Hierzu greift Grimmelshausen auf den Schwank Von der Jüden Messias (1485/86) des Hans Folz zurück, des geistigen Wegbereiters der Nürnberger Judenverfolgung von 1495.222 Aber er macht aus dem Kaufmann in der Rolle des Folzschen Studenten einen betrogenen Betrüger. Der christliche Kaufmann, nicht der Jude Eliezer, ist am Ende der Geprellte, der in „wütender Melancholey“ und in „äusserster Verzweifelung“ in den Krieg geht, dem er eigentlich hatte ausweichen wollen.223 Die Ich-Erzählung des Kaufmanns, der Perspektivismus seiner überaus informativen, aber gehässigen Darstellung der Lebens- und Glaubensverhältnisse der Amsterdamer Judengemeinde und des reichen portugiesischen Juden Eliezer geben gleichwohl stets den Blick frei auf das den Juden angetane Unrecht.
Auch die im Roman geschilderten listigen, eigensüchtigen Praktiken der Judenmissionierung bleiben nicht unhinterfragt stehen.224 Im abschließenden Diskurs zwischen einem reformierten Pfarrer, einem katholischen Geistlichen und einem Juden über die Frage der Judenmissionierung gibt der Autor dem Juden das letzte Wort: Er wolle abwarten, bis sich Lutheraner, Calvinisten und Katholiken geeinigt hätten: „die mutirung der Religion sey ein grosses Werck/daran die Seligkeit gelegen/und deßhalben nicht so leichtlich/und ohne reiffen Vorbedacht zu wagen.“225 Mit ebendiesen Worten hatte der junge Simplicius die Bekehrungsansprüche des Lippstädter Pfarrers zurückgewiesen. Der Erzähler Grimmelshausen respektiert die Entscheidung seiner Gestalten, ob Christ oder Jude, für ihre Religion. Zu dieser Haltung gibt es im 17. Jahrhundert wenig Parallelen.
Grimmelshausen ist Realist genug, um die Chancen einer Überwindung von Vorurteilen nicht zu überschätzen, gerade der über so viele Jahrhunderte und in so umfassender Weise anerzogenen und zur zweiten Natur gewordenen Einstellungen gegenüber den Juden. Er ist aber auch so mutig, bei aller Skepsis nicht in Resignation zu verfallen, sondern als Schriftsteller für jedermann verständlich gegen diese Vorurteile anzuschreiben:226
Zeig damit was die Ursach sey daß wir so blind hinwandern.
Schrey Irrender steh still.
Und Warn vor Schaden Jederman, den einen wie den andern
Ob jemand folgen will.
Soweit Grimmelshausen. Ob jemand folgen will? Immer noch ist Skepsis angebracht, wenngleich im Rahmen der Erzählgattungen offenbar noch am ehesten Toleranz praktiziert worden ist, wie etwa das Beispiel Eberhard Werner Happels aus Kirchhain (1647–1690) zeigt.227 Grimmelshausen hat sich vom Philosemitismus in der gesellschaftlichen Oberschicht seiner Zeit nicht ablenken lassen vom normalen Judenhaß und Antisemitismus, ihn hat er mit Hilfe seines dialektisch-satirischen Verfahrens der Wahrheitssuche in den „blinden Urtheilen“ seiner Zeit aufgesucht und als solchen kenntlich und überwindbar gemacht.
Doch der Weg von der literarisch vermittelten Einsicht bis hin zum toleranten Handeln des einsamen Lesers oder gar der Mehrheit des Volkes war sehr weit und ist immer noch sehr weit. Gerade der Rückfall des Herrn Omnis in die alten Vorurteile im Deutschland des 20. und auch des 21. Jahrhunderts hat in erschreckender Weise auch die Ohnmacht der gutwilligen Schriftsteller gezeigt und de facto die Alternative eines Sabbatai Zwi und eines Theodor Herzl bestätigt, hat gezeigt, wie nahe uns der Erzähler Grimmelshausen mit seiner beharrlichen, nicht zu entmutigenden Arbeit gegen den betrüglichen Wahn des Zeitgeistes immer noch steht.
4. Grimmelshausens Inselutopie
I
Der Traum von der Wiedererlangung des Paradieses auf Erden ist in der frühen Neuzeit oft geträumt worden. Immanuel Kants Appell „Sapere aude! – Habe Mut, deinen Verstand zu gebrauchen!“ faßt auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution dreihundert Jahre der Hoffnung auf die positiven, kreativen Seiten der Menschennatur zusammen, mit ebendiesem Ziel: eine Lebensform zu finden, die die traditionelle biblische Vorstellung vom Paradies in die Wirklichkeit überführt, als eine Neuschöpfung menschlichen Forschergeistes jenseits aller engen Traditionen und Konventionen: eine Lebensform des Friedens, des Einklangs mit der Natur, des Glückes und Wohlstandes aller Menschen auf der Basis von Freiheit und Gleichheit.228
Eine der Gattungen für derartige Versuche war die literarische Utopie.229 Der englische Humanist und Politiker Thomas Morus gab ihr 1516 das neuzeitliche Gesicht. Nach der von ihm erdachten Insel Utopia ist die Gattung benannt, an der von ihm erdachten staatlichen Organisationsform der Utopier orientieren sich die Autoren der Folgezeit, auch wenn sie andere Wege gehen, wie Caspar Stiblin in seiner Macaria (Basel 1555), Johann Valentin Andreae in seiner Christianopolis (Straßburg 1619), Denis Vairassse d’Alais Sévarambes (1677, dt. 1689) oder Johann Gottfried Schnabel in der Insel Felsenburg (Nordhausen 1731). Die frühneuzeitlichen Utopien sind eine Reaktion auf die Entdeckung der Neuen Welt sowie der Inselwelt des Pazifischen und Indischen Ozeans, schließlich Australiens (1605), und sie begleiten kontrapunktisch die reale Staats- und Gesellschaftsordnung der Alten Welt, sie orientieren sich aber auch an sozialen Experimenten wie in Paraguay, wo während des 16. Jahrhunderts unter Leitung der Jesuiten ein – gemessen an europäischen und kolonialen Lebens- und Herrschaftsverhältnissen – neuartiges Gemeinwesen entstand.230
Vom Standpunkt der mittelalterlichen Theologie aus, die in der Frühen Neuzeit keineswegs am Ende war, vielmehr im Zeichen des Kirchenvaters Augustinus im 16. und 17. Jahrhundert eine neue Blüte erlebte, mußte all dies als verwerfliche curiositas verstanden werden, als aberwitziger Wunsch zu sein wie Gott.231 Für Sebastian Brant (Narrenschiff, 1494) waren die Entdeckungsreisen nach Übersee Narrheit, Überheblichkeit.232 Ebenso streng urteilt die Historia von Doctor Johann Fausten (1587) über Fausts Versuche, auf seinen Forschungsreisen das Paradies wiederzufinden; dies sei die sündhafte curiositas eines dem Teufel Verfallenen.233 Es kommt uns heute seltsam vor, daß noch im Zeitalter eines Galilei, Descartes und Leibniz das biblische Geschichtsverständnis, das starre Ordodenken mit seinen Konsequenzen für die Gliederung der Gesellschaft und das starre vorkopernikanische Weltbild mit der Erde im Mittelpunkt des Alls die Vorstellungswelt der meisten Literati und Illiterati bestimmte, daß tatsächlich erst die Zeitenwende der Französischen Revolution und des napoleonischen