Pestkatastrophe ausgelöst habe. Er greift also die meteorologische Erklärung der großen Pest von 1349 auf und entlarvt die Beschuldigungen gegen die Juden, sie seien die Urheber, als großes Unrecht:206
Es ist nie erhört oder gelesen worden/daß dergleichen [Seuche] jemahls gewesen seith die Welt gestanden; daß musten die arme Schelmen die Juden entgelten/welche bezügtigt wurden/daß sie hin und wider die Brunnen vergifftet: solch Sterben dardurch angerichtet: auch der Christen Kinder heimblich getödtet und Brieff und Siegel sambt der Müntz verfälscht hätten; Welches in Teutschland viel tausenden das Leben kostet/die im Rauch gehn Himmel geschickt wurden/etliche in solcher Noth weil sie nicht entfliehen kondten/zündeten jhre Häuser an und verbrandten sich selbst mit Weib und Kindern […]; etliche wurden getaufft/aber mit schlechter Andacht/damahls jagten die Reichs Stätt jhre Juden von sich/zerrissen jhre Häuser und Sinagogen/und verbesserten jhre gemeine Gebäw damit/Pfaltzgraff Ruprecht bey Rhein beschützte die arme Tropffen/mit Anzeigung daß jhnen unrecht geschehe/darvor sie in die Silberbüchs blasen musten/es wehren jhrer sonst wenig darvon kommen/dann sie effenmässig in Italia und Franckreich mit Fewr und Schwerd verfolgt wurden […]/etliche rechnen bey 12000. Juden/so in diesem Jammer jhre Hälß hergeben müssen […].
Der Text bewirkt Mitleid mit den Opfern und verweist zugleich auf die ökonomischen Beweggründe der falschen Anschuldigungen wie Brunnenvergiftung, Kindermord und Urkundenfälschung.207 Bleibt noch der Vorwurf der Geldgier. Das Verhältnis der verschiedenen Stände einschließlich der Juden zum Geld hat Grimmelshausen in einer eigenen Versuchsanordnung analysiert: Rathstübel Plutonis Oder Kunst Reich zu werden/Durch vierzehen underschiedlicher namhafften Personen richtige Meynungen (1672). Auf dem Bauernhof des alten Simplicissimus versammeln sich Martius Secundatus, ein incognito reisender Fürst mit seinem Anhang, einem schwedischen Schreiber, einem reichen Bürger mit seiner Familie, einem Kaufmann und einem Handwerker, hinzu kommen eine Schauspielerin, die alten Bauersleute Knan und Meuder, die Landstörzerin und Zigeuneranführerin Courasche, der abgedankte Soldat Springinsfeld und auch Aaron, ein sechzigjähriger jüdischer Viehhändler. Bis auf die Geistlichkeit, an deren Stelle offensichtlich Simplicissimus selbst tritt, sind somit Repräsentanten aller Schichten einschließlich der Unterschichten der damaligen Gesellschaft vertreten: Im Schatten einer Linde, am utopischen Ort also, finden sie sich unter der Leitung des Fürsten zu einem gemeinsamen Diskurs über das Thema zusammen, das sie alle charakterisiert: der Gelderwerb. Der Jude Aaron, der gerade mit Unterstützung des Simplicissimus dem Knan einige Mastochsen abgekauft hat und dabei „nach ihrem Brauch mit den Händen umb sich fochtelte/als wann er eine wichtige disputation außzuführen vorgehabt“,208 lehnt die unglaubliche Einladung zunächst ab, macht darauf aufmerksam, „daß es ihm nicht gebühre“;209 er wird vom Fürsten mit Drohung und Brachialgewalt in den Gesprächskreis befördert. Aber erst als der Fürst ihm erneut Prügel androht und die übrigen Teilnehmer ihm das Ganze als Spiel erklären, fügt er sich in die ihm ungewohnte Situation, – ein bedeutungsvoller Vorgang, der einmal den ungeheuer großen Abstand der Juden von der übrigen Ständegesellschaft, ihre Rechtlosigkeit, zeigt, zum anderen aber auch die Voraussetzung einer sozialen Änderung: die Macht des absolutistischen Monarchen und die wohlwollende Gesprächsbereitschaft seiner Untertanen.
Eben diese Einstellung literarisch einzuüben, ist offenbar Ziel dieser Schrift. In den drei Gesprächsrunden über die Frage, „durch was Mittel einer der Armut entfliehen und zur Reichtumb gelangen könte“,210 erhält der Jude Aaron wie die anderen zehnmal das Wort, Seine Antworten ergeben ein realistisches Bild der Lebens- und Überlebensbedingungen jüdischer Händler. Die von ihm vertretenen Grundsätze des Geld- und Warenhandels und der sparsamsten Lebensführung unterscheiden sich von den Vorschlägen der anderen arbeitenden Ständevertreter nur durch ihre größere Ehrlichkeit und Rationalität in der Nutzung der geringen Erwerbsmöglichkeiten,
Es ist daher konsequent, wenngleich gar nicht mit der üblichen Propaganda gegen die Juden im Einklang, wenn der alte Knan für den Juden eintritt. Er sieht in Aaron den ebenbürtigen Handelspartner, den er im Unterschied zu „Secundarius“ und seinem Militär, seinen Beamten, Schultheißen und Schaffnern, im Unterschied auch zum Bürger „Altmammon“ und den wucherischen Kauf- und Handwerksleuten gerade nicht zu fürchten braucht:211
Dort vom Aron wil ich nichts sagen/dann mit ihnen zuhandlen/stehet in eines jeden freyen Willen/und die Juden alle mit einander könden mir nichts/wie ihr underschiedliche Leuth under einander thut/abnöhtigen/wann ich nicht selbst mich in die Gefahr gebe/und mich ihnen frey willig underwerffe […].
Wie wenig aber Aarons Antworten und auch die Einlassung des Knan bewirken, zeigt die abschließende gönnerhafte Folgerung des Fürsten: „Rabbi Mauschele“ könne mit seiner Profession „mehr alß wol“ zufrieden sein, da er mit seinem „Spieß [gemeint ist der Wucher, das Zinsnehmen] ohn mänigliches Einreden und Verhinderung auff allerhand Manier fechten: und ohne Beobacht- und Beängstigung [seines] gewissenlosen Gewissens durch allerhand Vortheil/List und Betriegerey erschachern/und zu [sich] rappen und sacken“ könne.212 Das sind immer noch die alten Vorurteile gegenüber den Juden, nur daß der Leser inzwischen die doppelte Moral des „gewissenlosen Gewissens“ gerade aus den Antworten der bigotten, reichen, christlichen Bürger und des Fürsten kennengelernt hat. Die Verteidigungsrede des Aaron ist dadurch um so überzeugender:213
Ich sehe an deß Herrn Meinung/daß weise Leuth bißweilen auch irren/sintemahl wann ich die Wahl hätte/und mirs mein Religion zugebe/ich wol ein grosser Stocknarr were/wann ich meinen miihsammen und armseligen Stand/darinn ich Tag und Nacht mit saurer bitterer Mühe/Gefahr/Sorg und Angst nach meinem geringen stuck Brodt lauffen und rennen muß/nicht mit einem andern und bessern zuvertauschcn wünschte.
Zur Begründung verweist er auf die Rechtsungleichheit und Rechtsunsicherheit der Juden im Zusammenleben mit den Christen:214
man legt uns zu/daß wir durch Betriegerey die Christen beseblen/verschweigt aber allerdings/daß dieselbe Kunst under ihnen auch üblich/und sich ein jeder/der mit uns handelt/befleisset/wie er dardurch zum Ritter an uns werden möge/und welcher einen Juden betreugt/bildet sich eyn/alß hätte er das gröste Werck von der Welt verrichtet/lachet darüber öffentlich und heimlich in die Faust/und kan sich dessen nicht gnug rühmen: Trutz daß alßdann einer auß uns armen Tropffen aufgezogen käme/ein groß Geschrey darauß zu machen/und wie mans in dergleichen Fällen uns zukochen pflegt/zuschelten oder zusagen: Er hat mich beschissen (mit gunst) wie ein Schelm und wie ein Dieb/wurde ein solcher nicht noch darzu von aller Welt verschmähet und außgelachet/und noch darzu von der Oberkeit gestrafft oder mit Fäusten abgetrücknet werden? Dahingegen wir arme Tropffen jedermanns Hund/ja Verrähter alß die ärgste Schelmen seyn müssen.
Der Fürst versucht diese bittere Anklage durch Ironie abzutun und wird auch dadurch immer mehr zur eigentlichen Zielscheibe der satirischen Kritik dieser Schrift; er muß schließlich so viel zugeben, daß die vom Juden gegebenen Regeln des Finanzgebarens, auf Regierungsebene praktiziert, sehr nützlich für den ganzen Staat wären. Offenbar spielt der Autor hier auf den Aufstieg der jüdischen Hoffaktoren an, läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß nicht die rationalen Finanzprinzipien Aarons, sondern die falsch verstandene unverantwortliche Reputations- und Repräsentationssucht des Fürsten selbst sowie seine „unnöhtigen und unrechtmessigen“ Kriege Mißwirtschaft und Ruin des Landes bewirken.215 Das abschließende Gastmahl auf Kosten des Fürsten gibt dann Gelegenheit, auch auf ein ganz konkretes Hindernis des Zusammenlebens, die jüdischen Speisevorschriften, hinzuweisen, dieses Hindernis zu überbrücken und zu reflektieren. Die Meuder spendiert dem Juden „auß Mitleyden“ ein paar Eier, „damit der arm Schelm so nicht mit uns speysen wolle/kein Hunger leyden dörfte“.216
Die Geste der Meuder zeigt, daß Toleranz sich im konkreten Fall zu bewähren hat. Das aber setzt die Fähigkeit voraus, Vorurteile als solche zu erkennen und hintanzustellen. Immer wieder führt der Erzähler Grimmelshausen seine Gestalten in Situationen, in denen ihnen die Betrüglichkeit ihrer Urteile bewußt werden:217
Ich grübelte der Ursach nach warumb doch die Menschliche Urtheil gemeiniglich so betrüglich wären? Und hielte darvor/daß weil die blinde Urtheil oder der Menschen Wahn/nach der Beschaffenheit deß innerlichen Gemüths