Utopisten lassen der curiositas freien Lauf, sie ersinnen neuartige Gemeinwesen, die gegenüber der Außenwelt abgeschottet, wirtschaftlich autark, nach dem Prinzip der gleichen Rechte und Pflichten meist städtisch-bürgerlich organisiert sind. Sie verwenden dazu, auch aus Sicherheitsgründen, zunächst nur die lateinische Sprache der Gelehrten.
In dieser, für die frühe Neuzeit typischen Konfliktsituation hat Grimmelshausen seinen Simplicissimus-Roman verfaßt. Dessen Held erleidet wie in den Utopien seit Morus auf seiner Seereise Schiffbruch und wird auf eine bis dahin unbekannte Insel verschlagen. Der Autor hat seinen Helden Simplicius als einen hochbegabten Menschen mit außergewöhnlich starker Einbildungskraft, scharfem Verstand und ebenso außergewöhnlicher Wißbegierde ausgestattet, die ihn zu immer neuen Erfahrungen drängt. Er hat ihm aber auch gewisse christlich religiös fundierte Maßstäbe mitgegeben: eine ebenso ausgeprägte Eigenschaft, Erfahrenes, meist leidvoll Erfahrenes kritisch zu reflektieren, zu „betrachten“, den Wahrheitsgehalt, den religiös-allegorischen Sinn des Erfahrenen herauszufinden, was diesem Helden um so leichter gelingt, als er außerhalb der ständischen Gesellschaft steht.
Die Dialektik von Erfahren und Betrachten treibt die Entwicklung des Helden und den Erzählprozeß voran.234 Sie bewirkt seit den ersten Erfahrungen des Mißverhältnisses zwischen christlicher Lehre und mörderischer Realität eine zunehmend skeptische Haltung: eine Ahnung zunächst von der Unverbesserlichkeit der Menschenwelt. Diese wird als eine Gesellschaft im Kriege erfahren und im sog. Traum vom Ständebaum (ST I) illusionslos und kritisch reflektiert. Die skeptische Einstellung kommt auch in der vor dem Hanauer Gubernator aus dem Gedächtnis reproduzierten Regentenkritik (Von dem müheseeligen und gefährlichen Stand eines Regenten) zum Ausdruck.235 Diese Kritik an den gegenwärtigen schlimmen Herrschaftsverhältnissen wäre eigentlich schon eine gute Voraussetzung für einen utopischen Gegenentwurf, zumal wenn man Einbildungskraft und Wißbegierde des jungen Simplicius in Rechnung stellt. Doch es kommt anders.
Grimmelshausen bringt, wie oben gezeigt, im Fortgang des Romans das humanistische utopische Denken von der Verbesserbarkeit der Gesellschaftsordnung ein und desillusioniert es Schritt für Schritt. Von besonderem Gewicht ist dabei die Inselutopie in der Continuatio (Kap. 19–23) mit der angehängten Relation des Jean Cornelissen, also die letzten vier Kapitel der Continuatio. Zu fragen ist abschließend nach der Bedeutung der Inselutopie im Kontext der Simplicianischen Schriften.
Grimmelshausen kennt die Friedensschriften des Erasmus, sie sind die Folie, vor der er die chaotische Welt des Teutschen Krieges inszeniert.236 Die Suche nach der eigenen Identität ist für Simplicius mit zunehmender Bewußtheit zugleich die Suche nach Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens: Jupiterepisode (III, 3–6), Mummelsee-Episode (V, 12–16), die Reflexionen über die Lebensform der Ungarischen Wiedertäufer (V, 19), der Traum vom höllischen Reichstag (Cont. 2–8) führen Simplicius zunächst nur zu der resignierenden Einsicht, daß auf ein friedliches Zusammenleben der Christen in Europa wie der Menschheit insgesamt nicht zu hoffen ist und ein christliches Leben unter glücklichen Umständen „gantz wunderbarlicher weiß“ nur dem Einzelnen, dem Einsiedler, möglich ist, fernab von der unverbesserlichen Kriegsgesellschaft. Doch ist die Warnung am Beginn der Continuatio zu bedenken: „Wann einer wähnt er steh/so muß er fürter gehen“.237 Das bedeutet zunächst: Simplicius gibt die Einsiedelei, die er als Selbstbetrug durchschaut, zugunsten einer Pilgerreise auf.
II
Wie Simplicissimus in der Jupiterepisode auf die Möglichkeit der politisch-sozialen Utopie gestoßen wurde, so während seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela, das er nie erreicht, auf die Möglichkeit, fernab von der europäischen Gesellschaft, ganz für sich, einen eigenen Weg zu einem Leben in Frieden und Glück zu finden. Das ist Thema der Continuatio in den Kapiteln 19–23.
Simplicissimus beabsichtigt, mit einem portugiesischen Schiff von einem Hafen am Ausgang des Roten Meeres um das Kap der guten Hoffnung herum nach Lissabon zu gelangen. Auf der Höhe von Madagaskar gerät das Schiff in ein schweres Unwetter, das Schiff geht unter. Er und ein Schiffszimmermann treiben die ganze Nacht hindurch hilflos an eine Planke geklammert in der aufgewühlten See, bis sie im Morgengrauen an eine unbekannte und, wie sich herausstellt, unbewohnte kleinere Insel getrieben werden. Sie finden eine üppige, paradiesische Vegetation und Vogelwelt, auch das lebensnotwendige Süßwasser. Grimmelshausen, der Meister des „vollkommenen“ Erzählens, der „naturalen“ Beschreibung, vergegenwärtigt nun in all den Umständen, die wir in Romanen des 18. Jahrhunderts, aus Joh. Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731) und Daniel Defoe’s Robinson Crusoe (1719), wiederfinden, die Lebensweise der beiden Schiffbrüchigen, die sich auf ihrer Insel einrichten und mit Erfindungsreichtum ihr Überleben sichern. Die literarischen Quellen, auf die Grimmelshausen sich stützen konnte, sind bekannt. Es ist die Sammlung von Seefahrerberichten der Brüder de Bry, Orientalische Indien (Frankfurt a.M., 1601, hier der 5. Band, mit der Schilderung eines Schiffbruchs vor der Insel Mauritius (Do Cerne) im Indischen Ozean.238
Aber Grimmelshausen beläßt es nicht bei der Darstellung des äußeren Vorgangs. Der Reiz der Episode besteht gerade darin, daß der aufmerksame Leser auf den geistlich-allegorischen Sinn des Geschehens gestoßen wird, ohne daß der Literalsinn dadurch gestört würde. Man beachte die verwendeten Bildzeichen und Topoi:
– „die wüttenden Wellen des zornigen Meers“ sind zugleich ein traditionelles Sinnbild der Gottferne und des Bösen;
– wenn um „Mitternacht“ sich der Sturm legt und der Himmel klar wird, so ist dies ein topisches Bildzeichen der Heilsstunde: gemeint ist die geistliche Mitternacht;
– der „liebliche Geruch“ des Eilands ist ein topischer Hinweis auf die Heiligkeit des Ortes bzw. die Gnade Gottes.239
Um religiöse Erfahrung geht es denn auch hier: Dargestellt wird die eigentliche Bekehrungs- bzw. Begnadigungserfahrung des Ich-Erzählers, seine Glaubenserfahrung. Erst auf der Insel, als hilflos Gestrandeter, ohne sein Zutun, kann Simplicius wieder ebenso naiv-gläubig beten, Zwiesprache mit Gott halten wie in seiner Kindheit beim Einsiedel und in der ersten Zeit im Feldlager (ST II), ja stückweise nähert sich der Text der Form des betrachtenden Gebets, wie sie Augustinus seinen Confessiones zugrundegelegt hat. Daß die Insel durch den Reichtum der Natur einem Schlaraffenland gleicht, zum Müßiggang und zur Acedia anreizen könnte, stellt für Simplicius – den „Wiedergeborenen“240 – keine Gefahr mehr dar, wohl aber für seinen Gefährten, den Zimmermann; dieser erliegt prompt der Verführung durch die ebenfalls schiffbrüchig an den Strand getriebene schöne Abessinierin und trachtet dem nichts ahnenden Simplicius nach dem Leben, um dann mit dieser Frau die Insel in Besitz zu nehmen und mit ihr eine zahlreiche Nachkommenschaft zu zeugen: so der teuflische Plan. Als Simplicius bei der gemeinsamen Mahlzeit „nach christlichem und Hochlöblichen Brauch das Benedicite“ spricht, das Kreuzzeichen über die Speisen und die beiden Verschworenen macht („den Göttlichen Segen anruffte“), verschwindet mit einem Schlag die Frau und hinterläßt einen „grausamen Gestank“.241 Spätestens dies weist sie als verkappten Buhlteufel aus, der Simplicius vergeblich bedroht, so wie er die frühchristlichen Einsiedler in der thebaischen Wüste vergeblich bedroht und versucht hat. Dem zum Glauben erweckten Simplicius kann er nichts mehr anhaben, wohl seinem Gefährten, dem Zimmermann Simon Meron. Dieser wird von Simplicius zwar mit großer Mühe wieder zurecht gebracht, verfällt dann aber trotz des von Simplicius initiierten gemeinsamen „Gottseeligen Lebens“ der Acedia, der Melancholie, flüchtet sich in Palmweinräusche und stirbt bald, obwohl die beiden auf ihrer Insel leben könnten „wie die Leut in der ersten güldenen Zeit“.242 Noch nach seinem Tode findet Meron keine Ruhe, sondern muß spuken, weil er sich von seinen 30 Dukaten, vom Geld, nicht trennen konnte. Simplicius hatte sich ja schon in seiner Einsiedelei auf dem Mooskopf konsequent vom Geld gelöst.
Die äußeren Lebensbedingungen des exotischen Paradieses allein verändern also noch nicht den Menschen. Um wie im goldenen Zeitalter bzw. wie im Paradies leben zu können, müßte der Mensch sich entsprechend verändert haben, müßte im Stande der Unschuld sein. Bereits durch die Kontrastierung der beiden Inselbewohner stellt der Autor die Utopie in Frage. Er verfolgt freilich noch ein anderes Ziel. 1668, als die Continuatio gedruckt werden sollte, erschien