Grauen, und Stanck und Unflat machet sie abscheulich, wie ihnen gedrohet worden. Deut. 28,37.46. Das härteste aber über die Juden ist dieses, daß ihre Verwerffung ewiglich währet. […] Sie machen sich zwar mächtig breit mit ihrem goldenen Affen, und suchen einen gewaltigen Trost darinnen, Leu. 26,44. Allein der Trost gehöret weiter nicht vor sie, als in so ferne sie sich bekehren. […] Da sie […] nun bey nahe 1700 Jahr verstossen sind, müssen sie unendlich grössere Sünden, als ihre Väter, begangen haben [die nur 70 Jahre in Gefangenschaft waren], Freylich, denn sie haben den Sohn GOTTES getödet, und den HERRN der Herrlichkeit gecreutziget. Dessen Blut drücket sie noch, und erfüllet das Urteil, welches sie sich selbst sprachen. […] Entsetzlich sind die Flüche, welche ihnen ps. 69,23 seq gewünschet werden […].
Dieser Artikel wurde 1735 zensurfrei gedruckt. So alt die Topoi dieses Verleumdungsarsenals damals schon waren, sie haben auch im 19. Und 20. Jahrhundert noch ihre Wirkung getan. Das war, wie gesagt, möglich auch durch die Entwicklung der neuen Druckmedien seit 1450. Die Geschichte der Druckmedien ist von Anfang an auch die Geschichte der Einschärfung der Topoi des Judenhasses, der antisemitischen Propaganda.190 Eine gelehrte „Bibliotheca Hebraea“, eine Bibliographie vom Anfang des 18. Jahrhunderts, verzeichnet mehr als 1000 damals aktueller Scriptores Anti-Judaici.191 Das betrifft die Gelehrten. Damit nicht genug; gerade die breitenwirksamen Medien Flugschrift, illustrierter Einblattdruck, neue Zeitung, aber auch Handwerkertheater und Schultheater und, besonders effektiv, die für alle verpflichtende Sonntags- und Festpredigt schürten auf vielfältige Weise, in allen Gattungen Judenhaß und bestärkten Vorurteile über Minderwertigkeit und Bosheit der Juden.192 Unter den Gelehrten erwies sich der Heidelberger Orientalist Eisenmenger als besonders renitent: Sein Entdecktes Judentum oder gründlicher und wahrhaftiger Bericht über die traditionellen Judenhaßtopoi wurde aufgrund einer Intervention Samuel Oppenheimers, des kaiserlichen Hoffaktors in Wien, nach dem Erscheinen in Frankfurt 1700 verboten und beschlagnahmt, erschien aber bald darauf unbehelligt und erfolgreich im preußischen Königsberg (außerhalb der kaiserlichen Zensurgewalt).193 Selbst ein Voltaire mußte sich 1762 von einem niederländischen Juden, Isaac de Pinto, den Widerspruch zwischen seiner aufklärerischen Kritik an den Methoden der spanischen Inquisition und seiner eigenen unverantwortlichen antijüdischen Polemik vorhalten lassen:194
Ist denn der von der Feder angerichtete Schaden weniger verderblich als die Flammen des Scheiterhaufens? Ist dieses Übel dadurch, daß es sich auf die Nachkommenschaft vererbt, nicht noch verzehrender als das Feuer? Und was hat diese unglückliche Nation von dem blind wütenden Pöbel zu erwarten, wenn die barbarischen Vorurteile selbst von dem ruhmreichsten Genie unseres aufgeklärten Zeitalters geteilt werden?
Es gibt in der frühen Neuzeit nur wenige Autoren, die diesem Anspruch an kritisches Schreiben gewachsen waren, und ganz selten begegnen wir einem Autor, der dieser Intention in der Volkssprache und an Jedermann gerichtet, gerecht zu werden versuchte.195 Zu diesen Seltenen gehörte Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen.196
III
Zwei Gründe sind es, die Grimmelshausens Ausnahmestellung unter den deutschen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts bewirkten: ein Mehr an Lebenserfahrung und Kenntnis der sozialen Realität und eine geradezu methodisch betriebene Wahrheitssuche gegenüber Vorurteilen aller Art. Schon in der Vorrede zu seinem Satyrischen Pilgram (1667) macht er diese beiden Punkte gegen den Vorwurf der fehlenden gelehrten Bildung geltend:197
[Es] beliebe der Wohl-wöllende teutschgesinnte Leser ohnbeschwer zuvernehmen/daß ich mir vorgesetzt/von der Beschaffenheit allerhand; Ja den meisten Dingen in der gantzen Welt/so viel in kürtze seyn kan./Guth und Boß zuschreiben wie ich Sie in Büchern befunden und Selbsten gesehen und erfahren habe; Und gleichwie […] in der gantzen Welt nichts vollkommenes erfunden wird/daß nicht seine Mängel habe; Also ist auch hingegen kein Creatur noch Ding […] so schlimm noch nichts würdig/daß nicht etwas sonderbares an sich hette/so zuloben were […].
Dies ist das Programm eines Satirikers. Überlieferte oder selbsterfahrende Realität begegnet uns bei ihm stets in kritisch-satirischer Brechung. Einsicht in die Relativität aller Urteile verbieten ihm Haß, Hohn, Zynismus, erfordern „Mitleiden“, „Barmhertzigkeit“ gegenüber der Gebrechlichkeit der Kreatur. Das gilt auch für seine Darstellung der Juden und der schlimmen Vorurteile seiner Zeit gegenüber diesen. Das dabei verwendete dialektische Verfahren begegnet bereits auf der sprachlichen Ebene.
So verwendet er ungeniert die sprichwörtliche Redensart „mit dem Juden-Spieß rennen“, aber er bezeichnet damit durchweg Wucher und Geiz der christlichen „Handels-Leut und Handwercker“.198 Der Kölner Notarius und Kostherr des Simplicius, nicht etwa ein Jude, ist das Exempel des Geizhalses; die Begründung entspricht den historischen Fakten: „weil keine Juden in selbige Statt kommen dörffen/konte er mit allerley Sachen desto besser wuchern“,199 Jüdische Pfandleiher und Händler gehören für Simplicius zum unkommentierten normalen Alltag;200 um so heftiger sein und des Lesers Erschrecken über die Ermordung eines jüdischen Händlers durch Olivier, den skrupellosen Straßenräuber:201
Als […] ich mich ein wenig umbschauete/sahe ich ohnweit von uns einen Kerl stockstill an einem Baum stehen/solchen wise ich dem Olivier, und vermeinte es wäre sich vorzusehen; ha Narr! Antwortet er/es ist ein Jud/den hab ich hingebunden/der Schelm ist aber vorlängst erfroren und verreckt/und in dem gieng er zu ihm/klopffte ihm mit der Hand unten ans Kinn/und sagte/ha! Du Hund hast mir auch viel schöne Ducaten gebracht/und als er ihm dergestalt das Kinn bewegte/rollten ihm noch etliche Duplonen zum Maul herauß/welche der arm Schelm noch biß in seinen Todt davon bracht hatte/Olivier griff ihm darauff in das Maul/und brachte zwölff Duplonen und einen köstlichen Rubin zusammen/diese Beut (sagte er) hab ich dir Simplici zu dancken/schenckte mir darauff den Rubin/stieß das Geld zu sich […].
Der Autor macht hier zwar auch die enge Bindung dieses Juden an sein Geld zum Gegenstand satirischer Kritik, aber er heißt das Verbrechen an ihm nicht gut, sondern schildert einerseits die Gewissensnot des dem „Ertzmörder“ Olivier ausgelieferten Zeugen Simplicius, andererseits, auch hier die soziale Wirklichkeit abbildend, daß Olivier beim Verkauf seiner Beute auf die weitgespannten Handelsbeziehungen und den Sachverstand zweier jüdischer Pferdehändler angewiesen ist.202 Die Ironie des Autors will es, daß schließlich der christliche Pilger Simplicius, der als einziger die Forderungen Christi aus der Bergpredigt ernst zu nehmen versucht, in einem Wirtshaus durch Angetrunkene unversehens in die Rolle des Juden gedrängt und verhöhnt wird (Gert Hofmann hat jüngst in seiner Erzählung ‚Veilchenfeld‘ einen ähnlich gespenstischen Vorfall geschildert):203
jeder wolle wissen wer ich wäre; der eine sagte ich wäre ein Spion oder Kundtschaffter/der ander sagte ich sey ein Widdertaufer/der dritte hielte mich vor einen Narren/der vierdte schätzte mich vor ein heiligen Propheten/die allermeiste aber glaubten ich wäre der ewig Jud […]; als daß sie mich bey nahe dahin brachten auffzuweissen daß ich nicht beschnitten war; endlich erbarmbt sich der Wirth über mich/rüsse mich von ihnen und sagte/last mir den Mann ungeheyet/ich weiß nicht ob er oder ihr die gröste Narren seyndt […].
Die seit 1602 oft gedruckte „Historia vom ewigen Juden Ahasverus“, der zur Strafe für seine Mitleidlosigkeit bei der Hinrichtung Jesu „biß an den jüngsten Tag in der Welt herumb lauffen soll“,204 dient hier der höhnenden Menge zur Deutung eines christlichen Außenseiters, und nur das Erbarmen des Wirts rettet diesen vor weiterer Entwürdigung, Die Episode relativiert das Vorurteil und erweitert sich zur Allegorie für die Situation des Menschen, Christen wie Juden, in der Welt. All das wird im Simplicissimus-Roman mehr nebenbei erzählt; Grimmelshausen stellt dem zeitgenössischen Leser vertraute Alltagswelt mit ihren schlechten Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten vor Augen und macht diese als solche satirisch-kritisch bewußt. Wer sich an der „Hülse“ genügen läßt und auf den „Kern“ nicht achtet, der wird zwar, so der Autor, seine Kurzweil haben, aber „gleichwohl das jenig bey weitem nicht erlangen/was ich ihn zu berichten aigentlich bedacht gewesen“.205
Was „aigentlich“, in Wahrheit, von den Vorurteilen gegenüber den Juden zu halten sei, darüber hat er sich in anderen Schriften noch direkter geäußert. In seinem an ein breites Publikum gerichteten