Dieter Breuer

Grimmelshausen


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Kaiser, insbesondere die Luxemburger Karl IV. und Wenzel, seit der Goldenen Bulle 1356 auch die Reichsstände, nutzten ihr Schutzherrenprivileg immer offener zur finanziellen Auspressung der sogenannten Kammerknechte aus; Judenregal, Kopfsteuer („Güldenpfennig“), Sondersteuern aller Art und zu jeder sich bietenden Gelegenheit waren wichtige und sichere Einnahmequellen und besänftigten doch nicht den Judenhaß. Der Judenhaß hatte viele Gründe, ich nenne drei: 1) der jüdische Gläubigerstatus gegenüber den Stadtbürgern, auch dem gemeinen Mann, weniger gegenüber den nicht kreditfähigen Unterschichten; 2) die innerstädtischen Machtkämpfe zwischen Patriziat und Zünften bzw. gemeinen Leuten, in denen die Vorurteile gegen die Juden zur Ableitung des Volkszorns genutzt wurden; 3) die zunehmend erfolgreiche religiöse Unterweisung und damit auch Fanatisierbarkeit der städtischen Unterschichten durch das Wirken der Bettelorden seit dem Spätmittelalter.177 All das führte in den sozialen Krisenzeiten des 15. und auch noch des 16. Jahrhunderts zu den Judenvertreibungen aus den Städten und aus verschiedenen Territorien des Reiches. So hatte in Köln seit 1424 bis zum Ende des alten Reiches kein Jude mehr Wohnrecht, ein Tagesbesuch in der Stadt (gegen Gebühr) war nur in Begleitung von Stadtsoldaten möglich.178 Ähnlich hielten es die meisten anderen Städte.

      Nur unter günstigen Umständen konnten Judenvertreibungen im 16. und 17. Jahrhundert verhindert oder rückgängig gemacht werden. So verhinderte der elsässische Jude Josel von Rosheim (1478–1554), der von Kaiser Karl V. als „Befehlshaber und Regierer der gemeinen Jüdischkeit im Reich“ anerkannt war, auf dem Reichstag von Augsburg 1544 die Vertreibung der Juden aus den habsburgischen Ländern Böhmen und Ungarn. Sein mutiges Wort: „Auch wir sind menschliche Wesen, geschaffen vom allmächtigen Gott, um auf der Erde an eurer Seite zu leben“,179 mehr aber noch sein diplomatisches Geschick und erhebliche finanzielle Opfer gaben den Ausschlag. Von den großen städtischen Judengemeinden des Reiches waren nur noch Prag, Frankfurt, Worms und Metz übriggeblieben, und auch hier kam es zu Pogromen und Vertreibungen.180 Die Zerstörung des Frankfurter Ghettos und die Vertreibung der Juden aus Frankfurt 1614, im Gefolge eines Aufstandes der gemeinen Leute gegen die Stadtregierung wurde vom „milden“ Kaiser Matthias in aller Form rückgängig gemacht, ebenso ihre Vertreibung aus Worms 1615; eine neue „Stättigkeit“ gab den Juden in diesen Empörerstädten nun auf Dauer Wohnrecht, sozusagen zur Strafe der Bürger. Aber diese kaiserliche Milde war nicht die Regel. 1670 billigte Kaiser Leopold I. die Judenvertreibung aus Wien; selbst aus dem scheinbar so toleranten Hamburg mußten die Juden 1649 ins dänische Altona fliehen. Kaiserin Maria Theresia war 1744 nur nach massiven diplomatischen Interventionen Englands und der Niederlande bereit, von der vorgesehenen Vertreibung der Juden aus Böhmen abzusehen – gegen Zahlung einer gewaltigen Ablösesumme.181

      Diese spektakulären Beweise fortdauernder Rechtsunsicherheit werden nur unwesentlich abgeschwächt durch den Aufstieg von gebildeten sephardischen und aschkenasischen Finanziers und Faktoren in Schlüsselpositionen an den absolutistischen Fürstenhöfen während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.182 Selbst Kaiser Leopold I. beruft 1673, kurz nach Vertreibung der Wiener Judengemeinde, den Heidelberger Juden Samuel Oppenheimer als Faktor nach Wien, und dessen Organisationsgenie ist es zuzuschreiben, daß die kaiserlichen Heere in den Kriegen gegen Ludwig XIV. und gegen die türkische Invasionsarmee funktionstüchtig blieben. Aus den Hoffaktoren und ihren Bediensteten erwuchs im Laufe des Jahrhunderts die gebildete, anpassungsbereite Oberschicht der deutschen Judenheit. Im Schutze der Hofjuden konnten sich die jüdischen Gemeinden der Residenzstädte, aber auch die Landjudenschaften, die Zusammenschlüsse kleinerer, armer jüdischer Landgemeinden, zeitweilig regenerieren und relativ sicher leben. Andererseits haben gerade die Hofjuden durch die ihnen geneidete Nähe zum Monarchen die Aversionen und den Haß gegen die Juden insgesamt eher bestärkt. Hinzu kamen soziale Spannungen innerhalb der Judenheit selbst, die das bis dahin intakte Gemeindeleben beeinträchtigten. Unterhalb der anpassungsbereiten, von Fürstengunst bestrahlten gebildeten Schicht der Hoffaktoren, Gemeindevorsteher und Ärzte, die an italienischen oder niederländischen Universitäten (meist Padua oder Leiden) studiert hatten, ab 1678 auch an der kurbrandenburgischen Universität Frankfurt (Oder), ab 1767 auch im josephinischen Wien studieren konnten,183 – unterhalb dieser privilegierten Schicht gab es die breite Masse der gemeinen Juden, deren traditionelles religiöses Bildungsniveau absank: die typisch jüdischen Handwerker und Tressenmacher, Gold- und Silbersticker und Petschierstecher, dann die oft genug am Rande des Existenzminimums lebenden kleinen Viehhändler, Trödler, Geldwechsler und Pfandleiher, schließlich die Betteljuden und Banditen, d.h. diejenigen, die die hohen Steuern und Gebühren für Aufenthalt oder Wohnrecht nicht mehr aufbringen konnten und auf der Straße lagen.184 Durch Zuwanderung nach den polnischen Pogromen seit 1649 nahm die Schicht der zwischen Städten, Märkten und Dörfern wandernden jüdischen Händler, aber auch der Betteljuden noch zu. Auf ihre Kontrolle und Schröpfung verwendeten die Obrigkeiten viel repressiven Scharfsinn, bis hin zur Geburtenkontrolle durch Heiratsverbot für alle nachgeborenen Judenkinder, seit 1726 in Böhmen und Mähren, später auch in Preußen, in der Pfalz und im Elsaß.185

      Schwerer noch als durch die inneren sozialen Gegensätze wurde die gesamte Judenheit, nicht nur die des Reiches, in ihrer religiös verankerten Identität und in ihrer traditionellen Lebensweise durch ein religiöses Ereignis erschüttert: die enttäuschte Messiaserwartung von 1666.186 Die Leidenszeit der großen Vertreibungen der spanischen und portugiesischen Juden und Marranen seit 1492 sowie vor allem der polnischen Juden hatte hochgespannte messianische Heilserwartungen und eine breitere Hinwendung zur Mystik und zum Wunderglauben der Kabbala hervorgetrieben. Diese Erwartungen schienen in Erfüllung zu gehen, als 1648 in Smyrna ein Kabbalist namens Sabbatai Zwi auftrat, für das Jahr 1666 die Ankunft des Messias errechnete und 1665 sich mit großer Resonanz selbst als der Messias ausgab und das Zeichen zur allgemeinen Rückkehr ins Heilige Land gab. Vom Sultan vor Gericht gestellt, trat er, um sein Leben zu retten, zum Islam über. Dieses schockierende Ereignis stürzte die Juden in eine langwierige schwere Glaubenskrise, die durch die Anhänger Zwis, die Sabbataisten, noch verschärft wurde und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht bewältigt werden konnte. Die Sabbataisten suchten die „fremdartigen Taten“ Zwis, seine unmoralische, gesetzeswidrige Lebensweise kabbalistisch zu rechtfertigen und zu beschönigen. All das mußte die christliche Seite zu neuem Hohn und Haß sowie zu verstärktem Bekehrungseifer anreizen.

      Die Geschichte der jüdischen Minderheit im frühneuzeitlichen Europa ist, wie man schon aus diesen wenigen Daten ersehen kann, eine Leidensgeschichte, auch wenn die Pogrome in Westeuropa abnahmen und erste Ansätze dauerhafter Duldung zu verzeichnen sind. Wie wenig sich aber ungeachtet dessen in der Einstellung zu den Juden verändert hatte und wie wenig sich auf Dauer ändern konnte, zeigt ein Blick auf die in der Tendenz gleichbleibende, aber immer effektivere Indoktrinierung der Gesamtbevölkerung mit Hilfe der neuen Druckmedien.187 Mit enormer Breitenwirkung und erfinderischer Aktualisierung wurden so die alten Verleumdungen wie Ritualmord an Christenkindern, Hostienschändung und Brunnenvergiftung wachgehalten. Der im 17. Jahrhundert in Tirol sich etablierende Kult des seligen Anderl von Rinn, eines angeblich im 15. Jahrhundert von blutgierigen Juden ermordeten Christenknäbleins, ist erst im Jahr 1985 vom zuständigen Ortsbischof untersagt worden.188 Johann Heinrich Zedlers „Grosses Vollständiges Universal-Lexikon“, die Summe frühneuzeitlichen gelehrten Wissens und unentbehrliches Nachschlagewerk des Frühneuzeitforschers, führt im Artikel „Juden“ (Bd. 14,1,1735) allen Ernstes die ganze Verleumdungstradition aus lutherischer Sicht zur gefälligen Weiterverwendung auf:189

       Kinder des Teuffels sind sie, Joh. 8,44. Und des Satans Schule. Apoc. 2,9. 3,9. […] die Grund-Articel, worauf der allein seligmachende Glaube gebauet ist, und den Sohn Gottes, Jesum Christum, verlästern sie auf das allergreulichste; wenn sie ihn nennen, speien sie aus, und legen ihm über dieses lauter Götzen-Titel und alle Schand-Namen bey; dergleichen sie auch uns Christen thun, wie denn kein Laster-Name zu ersinnen ist, den sie uns nicht aufzuhefften pflegen. Sie sind unsere geschworne Feinde. Und wie offt haben sie nicht Christen-Kinder geschlachtet, gecreutziget, im Mörser zerstossen. Sie sind die ärgsten Diebe, und Betrug ist ihr eigentliches Wahrzeichen, Alle Mahl schwören sie falsch, wenn sie gleich die entsetzlichsten Eide ablegen müssen. […] Seit Jerusalem zerstöret worden, haben sie nie kein Königreich, noch Fürstenthum, noch Republic aufrichten können, wird auch in Ewigkeit nicht geschehen. Sie müssen ihren Hals unter das Joch fremder Obrigkeit beugen, und ihre Schultern neigen zu aller Bürde, die ihnen harte Herren