die dreihundertjährige Überzeugungsarbeit, eine Sisyphusarbeit, nicht abbreche, sondern weitergehe,
Ist uns aber die frühe Neuzeit und der Schriftsteller Grimmelshausen wirklich so nah, wie Günter Grass unterstellt? Ich werde zunächst klären, inwieweit man mit unseren heutigen Begriffen „Antisemitismus“ und „Toleranz“ die Situation der Juden in der frühen Neuzeit beschreiben kann. Ich werde dann die Leidensgeschichte der Juden im frühneuzeitlichen Europa skizzieren und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Druckmedien für die Festigung der viel älteren Vorurteile verweisen. Vor diesem historischen Hintergrund will ich dann zeigen, wie der Erzähler Grimmelshausen mit seinen bescheidenen Mitteln den herrschenden Vorurteilen über die Juden den Boden zu entziehen versucht.
I
Begriffe wie „Antisemitismus“ und „Toleranz“ auf die Sozialgeschichte und Literaturgeschichte der frühen Neuzeit zu übertragen, erscheint auf den ersten Blick gewagt, ja verfehlt. „Antisemitismus“ im Sinne von Rassenhaß, Diskriminierung der jüdischen Minderheit aus rassistischen Beweggründen ist in der definitiven Form des 19. und 20. Jahrhunderts in der frühen Neuzeit nicht zu finden. Um die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden religiösen Beweggründe hervorzuheben, hat man daher den Begriff „Antijudaismus“ bevorzugt.162 Doch hat die frühneuzeitliche Feindseligkeit gegenüber den Juden nicht nur religiöse Gründe; es werden stets auch ethnische, konstitutionelle, physiognomische und ähnliche Gründe geltend gemacht. Die Polemik etwa des Humanisten Johann Reuchlin und seiner Freunde gegen den getauften Juden Joseph Pfefferkorn seit 1516 zeigt dies deutlich. Beiden Seiten ging es um das zu ihrer Zeit für Christen legitime Ziel der Missionierung der Juden, sie unterschieden sich in den Methoden. Während der jüdische Konvertit Pfefferkorn die ältere, harte Methode verfocht: Wucherverbot, Pflicht zur Teilnahme an christlichen Predigten, Verbot der jüdischen Bücher, insbesondere des Talmud, trat der Humanist Reuchlin für eine sanfte, geduldige Form der Missionierung und insbesondere für die Respektierung der jüdischen Bücher, auch des Talmud, ein. Höchst ehrenwert war auch sein Versuch, den Rechtsstatus der Juden zu verbessern, das damals moderne römische Recht auch auf die Juden anzuwenden, d.h. ihnen als concives Imperii Romani Untertanenstatus zuzusprechen und sie dem mittelalterlichen Sklavenstatus der servi camerae zu entziehen.163 Aber: in der Polemik gegen Pfefferkorn war Reuchlin und den Humanisten um ihn jedes Mittel recht, um diesen Neuchristen gerade als Juden und Undeutschen zu verunglimpfen. Ähnliches finden wir, sehr viel breitenwirksamer, an alle niederen Instinkte und Vorurteile appellierend und im 20. Jahrhundert ohne Schwierigkeiten aktualisierbar, in den Schriften des alten Luther gegen die Juden.164 Es besteht also kein Anlaß auf die angeblich ganz andersartigen Verhältnisse vor dem 19. Jahrhundert zu verweisen und sich mit dem vordergründig allenthalben anzutreffenden religiösen Antijudaismus als Verhaltensmotiv des frühneuzeitlichen Menschen zu beruhigen. Der Begriff Antisemitismus bleibt zwar unscharf und scheint nur zu einer ersten Verständigung geeignet, aber er erweist andererseits auch schon vor der Ära des Rassismus heuristischen Wert: irgendwie ist alles schon immer da, nur die Argumentation verändert sich, religiöse Argumente treten später zurück hinter solchen, die „wissenschaftlicher“ klingen, jedenfalls die größere Evidenz zeigen.
Als ähnlich unscharf erweist sich der Begriff „Toleranz“ gegenüber den Juden.165 Im Sinne von wohlwollender, gesprächsbereiter Hinnahme, ja Anerkennung von Andersgläubigkeit und Andersartigkeit oder im Sinne von Gleichheit vor dem Gesetz begegnet er uns in der Regel nicht, sondern meist im Sinne einer effektiveren, sanften Methode der Judenmissionierung, und dennoch finden wir auch schon den aufklärerischen Toleranzgedanken: Am 23.12.1614 schreibt Conrad Victor, Marburger Professorensohn, der in Saloniki, im Osmanischen Reich, zum jüdischen Glauben konvertierte und dort als Moses Pardo lebte, an den Rektor der Marburger Universität:166
Oh, daß sich doch die christlichen Fürsten so verhalten möchten wie unser Türkischer Kaiser, der da sagte: ‚Gott hat mich zum Herrn über die Leiber und das Gut meiner Untertanen gemacht; die Seelen aber kann ich nicht zwingen, daß sie dies oder jenes glauben sollten.‘ Daher gewährt er allen Religionen Freiheit.
Solche osmanische Religionsfreiheit, die die Juden einschloß, hat es im frühneuzeitlichen christlichen Europa nur in wenigen Territorien und auch dort meist nur zeitweise, für die Dauer eines Regentenlebens, gegeben. Am weitesten gingen die kalvinistischen Niederländischen Generalstaaten: Amsterdam wurde für die aus Spanien und Portugal vertriebene sephardische Judenheit seit 1597 zum Zufluchtsort und „neuen großen Jerusalem“ mit Bürgerrecht und Gleichheit vor dem Gesetz (ausgenommen die Staatsämter).167 1611 öffnete sich ihnen gegen massiven und andauernden lutherischen Widerstand die freie Stadt Hamburg. Wenn in Hamburg die lutherischen Eiferer triumphierten, erwies sich das benachbarte dänische Altona als sicherer Zufluchtsort.168 1655 folgte mit größerer Konsequenz und historischer Beharrlichkeit bis hin zur Gründung des Staates Israel auch das puritanische und monarchische England (London).169
Es waren vor allem die kalvinistisch-reformierten Territorien, die aufgrund ihrer alttestamentlichen Orientierung zur Toleranz gegenüber den Juden neigten. So siedelte der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm I, auch darin dem niederländischen Vorbild folgend, die 1670 aus Wien vertriebenen Juden, allerdings nur wohlhabende, in Berlin-Cölln an und begründete den seither traditionellen Philosemitismus des brandenburgisch-preußischen Hofes. Doch entwickelten sich in den religiösen Reformbewegungen des 17. Jahrhunderts bei allen christlichen Konfessionen philosemitische Neigungen, damals „judentzen“ (iudaicare) genannt.170 Bei den Regenten kleinerer Territorien, wie dem Katholiken Christian August von Pfalz-Sulzbach, einem Konvertiten, konnte dies zu weitgehender Toleranz und Förderung auch der Judengemeinde führen; in Sulzbach entstand sogar ein leistungsfähiger hebräischer Druck- und Verlagsbetrieb.171 Der Sulzbacher Hofrat Knorr von Rosenroth publizierte seine „Kabbala denudata“.172 Das in den Staatslehren der Zeit stark rezipierte absolutistische Herrscherideal des altpersischen Königs Cyrus, der bekanntlich die babylonische Gefangenschaft des israelitischen Volkes beendet hatte, mag solche philosemitische Neigungen ebenso befördert haben wie der ökonomische Nutzen, der sich aus jüdischen Finanziers und einer florierenden Judengemeinde im merkantilistisch geführten Staat ziehen ließ.173 Aber aufs Ganze des damaligen Europa und des Deutschen Reiches bezogen sind dies alles eher Ausnahmen, Die Zufluchtsorte konnten plötzlich nach dem Tode eines Regenten, wie schon 1571 in Brandenburg oder 1737 in Württemberg, unvermittelt zum Ort der Peinigung werden. In Berlin wurde der Faktor Lippold von Prag, in Stuttgart der Faktor Süß Oppenheimer hingerichtet, der Volkszorn über fürstliche Mißwirtschaft auf jüdische Sündenböcke gelenkt.174
In Polen ging 1649 in den Judenmassakern des Kosakenaufstands sehr plötzlich eine jahrhundertelange Ära großzügiger Duldung zu Ende: seit 1367 hatte hier die aus dem Reich vertriebene aschkenasische Judenheit in Frieden leben und eine blühende eigene Kultur entwickeln können.175 Im alten Reich, wohin sich nun seit 1649 die überlebenden polnischen Juden flüchteten, fehlte nach wie vor eine Grundvoraussetzung für Toleranz: die Gleichheit vor dem Gesetz und die Rechtssicherheit, und daran änderte sich bis zum Ende des alten Reiches nur punktuell etwas, die Juden waren nicht Bürger, sondern nur „Schutzbefohlene“, beliebig erpreßbar, widerstrebend geschützt, nicht eigentlich toleriert.
II
Aus dem bisher Gesagten folgt, daß die jüdischen „Schutzbefohlenen“ der frühen Neuzeit zwischen Vorformen von Antisemitismus und Toleranz ihr Leben zubringen mußten.176 Seit dem vierten Laterankonzil 1215 waren die Juden die durch Ring und Hut gezeichneten Parias der christlichen Gesellschaft; seit den Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts, die in den Pogromen von 1349 gipfelten, war den Juden die Niederlassung in den Städten des Reiches nur befristet gegen Gebühr und nur in gemieteten Wohnhäusern innerhalb abgeschlossener Wohnquartiere, den Ghettos, möglich. Magistrate und Landesherren reglementierten durch Judenordnungen, eigentlich Gebührenordnungen, das Leben der Juden in den Städten und Dörfern aufs genaueste. Die Zünfte und Gilden der Handwerker und Kaufleute hatten längst durchgesetzt, daß die Juden nur in den nichtzünftischen Gewerben ihren Lebensunterhalt sichern durften: Geldhandel, Pfandleihe, Klein- und Hausierhandel, auch Viehhandel, Handel mit gewissen Luxuswaren. Sie konnten zufrieden sein, wenn die Territorialherren im Umland der Städte