müssen Sie wissen«, sagte ich. »Wie lange sind die Price-Schwestern schon Ihre Kundinnen?«
Ich hatte das Gefühl, daß sich Miß Hastings kaum merklich straffte, fast so, als gälte es, sich gegen eine besondere Gefahr zu wappnen.
»Ich kenne die Prices nicht«, sagte sie.
»Lala und Corinna Price. Sie wohnen in der West End Avenue«, erklärte ich.
»Es kann sein, daß sie' gelegentlich hier waren und sogar etwas kauften… Aber sie stehen nicht in meiner Kundenkartei«, meinte Miß Hastings. Sie schob mir einen mit Karteikarten gefüllten Holzkasten zu, der auf einer Ecke des Schreibtisches stand. »Bitte, überzeugen Sie sich.«
Der Kasten interessierte mich, aber ich verzichtete darauf, den Buchstaben P durchzublättern. Ich interessierte mich für einen anderen Namen. Ich fand ihn sofort.
»Wie ich sehe, kauft auch Lester Norwich bei Ihnen«, stellte ich fest.
Eine leichte Röte legte sich auf Miß Hastings’ Wangen. »Das hätte ich Ihnen sagen können, wenn Sie mich danach gefragt hätten.«
»Hier sind ein paar Rechnungsbeträge genannt«, sagte ich. »Er ist ein guter Kunde, nicht wahr?«
»O ja.«
»Für wen kauft er die Sachen?«
»Darüber darf ich nicht sprechen, Sir. Sie können von mir keine Indiskretion erwarten. Mr. Norwich hat Anspruch auf meine Verschwiegenheit.«
»Warum lügen Sie mich an?« fragte ich sie.
Miß Hastings erstarrte förmlich. »Wie können Sie es wagen…«, begann sie murmelnd.
»Der unbekannte Eindringling wollte kein Geld von Ihnen«, erklärte ich. »Er kam her, um Sie einzuschüchtern. Er sagte Ihnen klipp und klar, wie Sie sich zu verhalten haben, falls das FBI oder die Polizei auftauchen sollten. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, bedachte er Sie mit ein, paar Schlägen. Jetzt haben Sie keinen Mut mehr, den Mund aufzumachen. Sie haben Angst vor einem zweiten Überfall, Angst vor allem davor, daß der Gangster seine Drohungen wahr machen könnte. Deshalb schweigen Sie, und deshalb füttern Sie mich mit Halb- und Unwahrheiten. Sie kennen Lala Price. Sie kennen auch Corinna. Ich kann es beweisen.«
Miß Hastings hob mit einem Ruck ihr Kinn. Ihr Blick ging an mir vorbei ins Leere. Ihre Wangenmuskeln traten deutlich hervor. »Es ist mir egal, wie und was Sie darüber denken«, meinte sie leise. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen als das, was Sie bereits von mir hörten.«
»Es geht um die Aufklärung mehrerer Morde«, machte ich ihr eindringlich klar. »Wollen Sie sich an der Vertuschung dieser-, Verbrechen mitschuldig machen? Können Sie es verantworten, diese Mörder zu decken?«
Miß Hastings griff nach ihrem Glas. Ihre Hand zitterte dabei sehr stark. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt allein ließen«, sagte sie.
Ich erhob mich. »Hoffentlich bereuen Sie diese Haltung nicht«, sagte ich und ging hinaus. Ich marschierte die 5. Avenue zu meinem Wagen hinab. Als ich noch zehn Yard vom Eingang zu Norwich’ Office Building entfernt war, trat ein Mann aus dem Haus.
Er trug einen hellen, offenstehenden Trenchcoat und war barhäuptig. Er fiel mir sofort auf, ohne daß ich auf Anhieb sagen konnte, warum.
Vielleicht lag es daran, daß er pfeifend zum Himmel hochblickte und eine heitere Gelöstheit demonstrierte, die nicht zu der Eile passen wollte, die die übrigen Passanten zeigten. Weshalb kam mir sein Gesicht so bekannt vor?
Er hatte beide Hände tief in die Manteltaschen geschoben, drehte sich auf den Absätzen herum und ging auf einen vorschriftswidrig in der Haltezone parkenden Dodge zu. Er stieg hinein und fuhr los, ohne sich urr den Strafzettel zu kümmern, der unter dem Scheibenwischer klemmte.
Ich kletterte in meinen Jaguar und schloß zu dem Dodge auf, ließ aber einen Wagen zwischen ihm und mir rollen. Ich gab mir Mühe, das Gesicht des Mannes aus meiner Erinnerung zu lösen, in der es irgendwo verschüttet lag, hatte damit aber keinen Erfolg.
Der Jagdinstinkt, der in meinem Beruf so wichtig ist wie die Akribie der Detailarbeit, ließ mich am Ball bleiben. Ich folgte dem Dodge den Broadway aufwärts. Wir durchquerten den Theaterdistrikt, passierten die Riverside Church und überquerten in Höhe der 14. Straße den Harlem River. Ehe wir die Bronx erreichten, leuchtete das Signallämpchen ari meinem Funktelefon auf. Ich griff nach dem Handmikrofon und meldete mich.
Mr. McKee war am Apparat. »Hallo, Jesse«, sagte er. »Haben Sie bereits mit Lester Norwich gesprochen?«
»Ja«, antwortete ich. »Es war keine sehr ergiebige Unterhaltung, aber sie hat mich in die Lage versetzt…«
Mr. McKee fiel mir ins Wort. Das war sonst nicht seine Art. Es gehörte zu seinen Prinzipien, jeden Gesprächspartner geduldig anzuhören.
»Es ist gut, daß Sie das bereits hinter sich gebracht haben«, meinte er. »Jetzt könnte Norwich Ihre Fragen nicht mehr beantworten. Auf ihn wurde ein Attentat verübt.«
»Ist er tot?«
»Nein, aber die Ärzte geben ihm nur eine geringe Uberlebenschance.«
»Wann ist es passiert?«
»Ungefähr vor zehn Minuten«, sagte Mr. McKee.
»Wie ist es möglich, daß schon ein Kommentar mehrerer Ärzte vorliegt?« wunderte ich mich.
»Sie wohnen im gleichen Haus und waren nach der Tat als erste zur Stelle. Auf Norwich wurden drei Schüsse abgegeben, aus einer Waffe mit Geräuschdämpfer. Wo sind Sie jetzt, Jesse? Was tun Sie im Augenblick?«
Ich holte tief Luft. Zum zweitenmal an diesem Tag hatte ich das Zauberlehrlingsgefühl. Ich dachte an den Überraschungseffekt, den ich in Mr. McKees Office mit dem Diamantensäckchen erzielt hatte, als ich ihm antwortete: »Ich bin dem Mörder von Lester Norwich auf den Fersen, Sir.«
Ein Akt — was soll's?
»Sie haben eine heiße Spur?« fragte Mr. McKee beeindruckt.
»Mehr als das. Ich folge ihm. Er fährt einen Dodge mit der Nummer LX-4719. Mich würde es interessieren, auf wessen Namen der Wagen zugelassen ist.«
»Ich habe mir die Nummer notiert«, meinte Mr. McKee. »Brauchen Sie Verstärkung?«
»Danke, vorerst nicht.«
»Waren Sie in der Nähe, als es in Norwich’ Office krachte?« frage Mr. McKee.
»Ich habe die Schüsse nicht gehört. Ich wußte nicht einmal, daß Norwich angegriffen worden ist, aber mir fiel der Mann auf, der das Gebäude verließ. Er benahm sich so, wie jemand auf treten würde, der besonders unbefangen und normal erscheinen will und damit genau das Gegenteil erreicht. Mein Instinkt sagte mir, daß es nicht schaden könnte, ihm zu folgen. Ich hatte Glück, das ist alles. Natürlich kann sich heraussteilen, daß meine Nase mich im Stich gelassen hat und daß der Bursche für den Mordversuch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Liegt Ihnen eine Beschreibung des Täters vor?«
»Sie ist nicht sehr genau. Fest steht eigentlich nur, daß der Mann einen hellen Trenchcoat trug und schütteres blondes Haar hatte. Er stellte sich der Vorzimmerdame als Burt Forster vor, aber dieser Name ist mit Sicherheit erfunden.«
»Der Mann, dem ich folge, tragt einen Trenchcoat und hat schütteres blondes Haar«, sagte ich.
»Wo sind Sie im Augenblick?«
»In der Bronx. Wir fahren den Major Deegan Expressway hinab und passieren gerade die Bronx Station in der 138. Straße«, antwortete ich.
»Weiß der Mann, daß Sie ihm folgen?«
»Ich glaube, daß er mich noch nicht bemerkt hat. Zwischen ihm und mir fahren zwei Wagen.«
»Ich rufe zurück, sobald ich erfahren habe, wem der Dodge gehört«, sagte Mr. McKee.
Der