Falls dem Wasser aus der Leitung nicht zu trauen ist, sollte ich mir vielleicht besser nicht mehrmals täglich ins Auge fassen. Ja, ich weiß, ich bin ein Viren-Phobiker mit ausgeprägtem Vollsyndrom. Stets weiß ich, welche kritischen Kontaktflächen ich seit dem letzten Händewaschen berührt habe. Richtig schlimm war das alles, als ich noch ein kleiner Junge war. Meine Mutter musste mich quasi mit Gewalt vom Waschbecken fernhalten. Im Winter platzte meine Haut sogar an den Händen auf, wegen des vielen Händewaschens mit anschließendem Gang hinaus in die Kälte. Damals gab es Handcreme kombiniert mit Baumwollhandschuhen, um sie über Nacht einwirken zu lassen. Aus dem kindlichen Waschzwang resultierte schließlich ein bewusstes Interagieren mit meiner Umwelt. Man kann davon denken, was man will … Aber ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren irgendwann einmal krank gewesen zu sein, trotz Grippewellen und einer Norovirus-Epidemie an meiner damaligen Schule, die deshalb sogar vom Gesundheitsamt geschlossen werden musste. Warum erzähle ich das?
Nun ja, auch wenn ich mein Verhalten im Gegensatz zu früher nicht mehr als zwanghaft einstufen würde, so ist Indien dennoch eine ganz persönliche Herausforderung für mich hinsichtlich meines Bedürfnisses nach Hygiene. In diesem Kontext hatte ich ein wirklich tolles Gespräch mit Heilerin und Bestsellerautorin Annette Bokpe, die bis zu ihrer Scheidung eine waschechte afrikanische Kronprinzessin gewesen war und während der Indienreise eine geschätzte Freundin werden sollte. Sie ist eine dieser inspirierenden Begegnungen, für die ich sehr dankbar bin, doch dazu später mehr. Als ich sie, wie einige andere der Mitreisenden, vorab interviewte, fiel das Thema auf meine Bedenken. Aus meinem kleinen Hygienetick machte ich kein Geheimnis und so amüsierte sie sich köstlich darüber, dass der Aufenthalt eine Grenzerfahrung für mich werden würde. Danke, Annette! Genau das habe ich gebraucht. So in etwa bewertete ich zutiefst sarkastisch ihre Anmerkung am Telefon. Doch dann zeigte sie mir anhand ihrer jahrelangen Erfahrungen in Entwicklungsländern auf, wie sehr mich diese Erlebnisse persönlich weiterbringen würden.
Sie muss es wissen. Nachdem sich der Kronprinz von Allada in sie verliebt hatte, heirateten die beiden und Annette wurde Prinzessin. Dies führte unter anderem zu dem Erlebnis, dass ihr eine vollautomatische Kalaschnikow an den Kopf gehalten wurde, um sie auszurauben. Ich liebe ihre Geschichten. Und ihre Weisheit. Der Austausch mit ihr hatte mir bereits einen neuen Blickwinkel eröffnet. Trotzdem bleiben die Kontaktlinsen daheim, da lasse ich nicht mit mir reden. Dieser Entschluss geht natürlich zulasten meiner Eitelkeit, ich hasse es, eine Brille zu tragen. Nun gut, alle Klamotten sind eingepackt sowie Arbeitsmaterial und Hygieneartikel.
Überraschenderweise lässt sich der Koffer wider Erwarten schließen. Sehr gut, dann nur noch alles ins Auto tragen … geschafft. Während ich draußen den Wagen einräume, fange ich angesichts der eisigen Kälte an, mich nach Indien zu sehnen. Wow, 36 Grad Celsius und Sonnenschein. Sehr angenehm im Winter. Morgen dann, denke ich mir, und nehme zunächst noch mit meinem warmen Wohnzimmer vorlieb. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, dass ich meine ganzen Sachen nicht in den Koffer bekommen würde. Hat doch ganz gut geklappt so weit. Und jetzt mache ich es mir gemütlich. Oh! Ich habe das Moskitonetz vergessen. Also noch einmal raus zum Auto, Koffer wieder in die Wohnung, umräumen, überlegen, was ich daheimlassen muss; das Netz nimmt mit seiner Drahtfassung viel Platz ein, doch es ist ein unverzichtbarer Begleiter in Indien.
So, jetzt aber: Das Packen ist endgültig geschafft!
Jetzt noch ein letztes Mal ins Fitnessstudio, bevor es losgeht. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich bald am Strand spazieren werde, in einem weit entfernten Land. Meine Freunde kommen nicht aus dem Staunen heraus, als ich es ihnen bei einem gemeinsamen Abendessen berichte.
Ja, das Leben als Journalist hat auch seine Vorzüge. Den Begriff »Lügenpresse« kennt in Indien wahrscheinlich niemand. Fairerweise muss ich sagen, dass ich derartige Bezeichnungen für meinen Berufsstand nur aus dem Fernsehen vernehme. Bei uns im schönen Oberbayern sind viele Dinge weitgehend in Ordnung.
Jetzt ist es 21 Uhr: Es ist der Abend vor der Abreise. Einen letzten Blick werfe ich in die WhatsApp-Heilergruppe, bevor ich mich schlafen lege. Ein gewisser Martin Kälin verkündet, dass die Schweiz, damit meint er seine Nationalität, auch an Bord sei und schickt einige Bilder vom Flughafen unter anderem den Abschied von seinen bezaubernden Kindern.
Auch Martin wird mir im Zuge der Reise seine Lebensgeschichte offenbaren. Es ist die eines ehemaligen Rohstoffmanagers, eine sehr harte Branche mit bedenklichen Praktiken. Er wird während des Camps vollends zum Heiler werden und zu sich selbst finden. Seine Erzählungen sind mir bis heute eingehend im Gedächtnis. Ich will nun wirklich nicht zu viel verraten oder den Spannungsbogen übertrieben aufbauen, aber die Menschen, denen ich im Zuge meiner journalistischen Begleitung während der Indienreise begegnen und kennenlernen durfte, sind allesamt außergewöhnliche Persönlichkeiten. Und es erfüllt mich mit einem gewissen Stolz, ihre Geschichten erzählen zu dürfen.