ich habe auch mentale Kräfte.« Ich bitte also, vermeintlich zufällig, den Herrn Steuerberater mir nicht zu erzählen, was er denn arbeitet, er solle sich bitte seinen Arbeitsplatz genau vorstellen, im kleinsten Detail. An dieser Stelle sei erwähnt, dass alle Mitreisenden aus verschiedenen Teilen Deutschlands, Österreichs und weiteren Ländern kommen und er nicht damit rechnen konnte, dass ich die kleine unbedeutende Stadt in unserem Landkreis, in dem er arbeitet, genauestens kenne. Ich schließe die Augen und meine, er solle nun gedanklich aus dem Fenster schauen und für sich behalten, was er im Geiste sehe. »Ich sehe einen Platz, einen Marktplatz mit den Ständen eines Bauernmarktes. Und eine Kirche, da steht eine große Kirche«, rufe ich höchst konzentriert. Im ersten Moment sind alle völlig verdutzt und schauen ungläubig. Eine der Frauen fragt ihn, ob das denn nun stimme, was er bestätigt. Dann fragt er mich, ob ich im Vorfeld zu seiner Person recherchiert hätte. Ich löse das Ganze amüsiert auf und wir stellen fest, wie viele gemeinsame Bekannte wir haben. Übrigens auch den befreundeten Unternehmer, der mich und Neti ›zusammengebracht‹ hat. Was für ein Zufall! Viele meiner Unternehmerfreunde sind seit Jahren seine Mandanten. Er ist eine Koryphäe im Steuerrecht und postet auf Facebook Videos in denen er abwechselnde Themen erläutert. Zudem ist er ein überzeugter und passionierter Heiler, wie wir noch erkennen werden. Irgendwie passt das für mich nicht wirklich zusammen, aber es gefällt mir immer wieder herauszufinden, dass entgegen der öffentlichen Meinung das energetische Heilen nicht zwingend ein Sammelbecken für weltfremde Esoteriker ist. Nein, unter ihnen gibt es sogar renommierte Steuerberater; mal ernsthaft, was liegt denn noch weiter von diesem Klischee entfernt? Vielleicht ein Rohstoffmanager aus der Schweiz? Doch dieser ergänzt das Team der Heiler ohne Grenzen ebenfalls. Zwar war ich auch vor der Reise kein Mensch, der allzu viel auf Vorurteile und Schubladendenken gab, immerhin sollte man als Journalist aufgeschlossen sein als Voraussetzung für dieses Metier –, doch nach dieser Reise kann ich endgültig versichern, dass der Schein oftmals trügt. Und wie fatal es ist, Menschen auf eine Facette ihres Selbst zu reduzieren. Jeder Mensch ist einzigartig, doch manche verblüffen einen so sehr, dass man es kaum zu beschreiben vermag. Dabei muss ich auch an Gerhard Neugebauer und Thomas Krack denken. Gerhard, einst leitender Techniker in einem Krankenhaus, ein bayerischer Handwerker und gestandenes Mannsbild, kündigt seinen sicheren Job als Beamter, um in leitender Funktion an der École San Esprit tätig zu werden, so überzeugt ist er vom Geistigen Heilen nach Annette Müller. Davon ist auch Thomas Krack überzeugt. Dieser war im ›früheren Leben‹ erfolgreicher Unternehmer und leitete als selbstständiger Handwerker eine Bäder- und Fliesenausstellung samt Onlineshop und 25 Mitarbeitern. Dazu war er ein Materialist, wie er im Buche steht. Einst ließ er sich zur Hochzeit mit Europas längster Stretch-Limousine fahren, besaß eine Villa mit 300 Quadratmetern und vielen Zimmern und alles Weitere, was sich ein Materialist so wünscht, um vermeintlich glücklich zu sein. Damit das alles irgendwann realisiert und bezahlt werden konnte, arbeitete er mehr als zwei Jahrzehnte rund um die Uhr. Alles drehte sich nur im die Arbeit, sodass er die schönen Dinge, die er besaß, nicht einmal mehr genießen konnte. Denn alles, was er abgesehen vom Schlafen tat, war schuften. Dies führte ihn in den Burn-out, gefolgt von einem langen Klinikaufenthalt. Der Wendepunkt kommt, als er seine neue Lebenspartnerin zu den Heilertagen im Chiemgau begleitet und dort Gerhard Neugebauer trifft. Er spricht ihn verwundert darauf an, dass er doch aussehe wie ein Handwerker. Ein altes Sprichwort sagt: «Ein Fischer wird aus der Ferne immer einen anderen Fischer erkennen«, und so verhielt es sich auch bei den beiden. Auf den Heilertagen erlebt Thomas die gleiche Überraschung wie ich. Unter den Heilern sind Banker, Journalisten, Geschäftsleute, Mediziner, Handwerker und sogar Steuerberater und natürlich viele weitere Menschen aus den unterschiedlichsten beruflichen Branchen mehr, mit denen ich so nicht gerechnet hätte. Ebenso wenig Thomas Krack, der an jenem Tag beschloss, Heiler zu werden, und heute, just in diesem Moment, am Flughafen Dubai als Heiler ohne Grenzen zusammen mit uns auf seinen Anschlussflug nach Indien wartet. Es sind Geschichten wie diese, die mir auf der Reise begegnen und die mich zutiefst faszinieren. Um 21 Uhr Ortszeit hat das subjektiv sehr kurze Warten ein Ende und das Boarding für den Anschlussflug nach Chennai in Südindien beginnt. Weitere Heilerinnen aus anderen Ländern sind in Dubai zugestiegen. Kaum im Flugzeug sitzend, beginnt auch schon mein erstes Erlebnis, das mir kulturelle Unterschiede zwischen ›hüben und drüben‹ aufzeigt. Es ist das respektlose und unverschämte Verhalten einer dem Anschein nach gut betuchten indischen Großfamilie vor mir. Ich kann mich noch an den netten Herrn erinnern, ich vermute aus Bayern, der auf dem Flug nach Dubai vor mir saß. Dieser drehte sich zu Beginn zu mir um und fragte mich höflich, ob es denn in Ordnung wäre, wenn er die Lehne etwas nach hinten verstelle. Freundlich entgegnete ich ihm ein »Selbstverständlich,« und bedankte mich für die rücksichtsvolle Nachfrage. Was wäre die Welt für ein herrlicher Ort, wenn alle Menschen höflich und etwas einfühlsamer wären? Nun denn. Beispielhaft rücksichtslos sind jedenfalls die erwähnten Mitreisenden vor mir. Da wird der Sitz so weit nach hinten verstellt, dass eine freundliche Stewardess den Herrn auch ohne meine Bitte aufweckt und ihn maßregelt. Inzwischen ist die Familie der Mittelpunkt des Fluges. Die Kinder schreien und ein übler Fäkaliengeruch durchdringt die Reihen.... Doch es folgt schon kurz darauf eine äußerst positive Begegnung, als mich mein indischer Sitznachbar in exzellentem Englisch anspricht. Woher ich denn käme und was ich in Indien vorhätte, fragt er mich. Bevor ich ihm antworte, überlege ich kurz, wie er denn wohl auf einen Journalisten reagieren würde. Egal, denke ich mir, und schildere ihm meine dokumentarische Begleitung der Reise. Er ist begeistert und erzählt mir seinerseits von seinem Master-Studienaufenthalt in den USA, seiner Faibles für die westliche Kultur und seinem Vorhaben, die Familie in der Heimat zu besuchen. Wir verstehen uns auf Anhieb und so versuche ich ihm einige interessante Antworten auf Fragen zu entlocken, die ich bezüglich des indischen Subkontinents habe. Ich berichte ihm von meinem Antrag auf ein indisches Visum. Das ganze Prozedere hat mich nachhaltig verunsichert. Was Indien denn für ein Land sei, in dem Einreisende penibel genau zu ihrer ethnischen Herkunft befragt werden, möchte ich wissen. Das erinnert mich an den Ahnenpass, von dem ich im Geschichtsunterricht der siebten Klasse erfuhr als wir über das Dritte Reich sprachen. Galt das Interesse damals einer etwaigen jüdischen Abstammung, zielten die Fragen im indischen Visumsantrag auf den verhassten Nachbarn Pakistan ab. Ich fand das alles sehr befremdlich, denn abgesehen von der Herkunft wollte man auch wissen, ob man in den vergangenen Jahren als Tourist in das nordwestlich von Indien gelegene Land gereist sei. Unverblümt frage ich ihn, was das solle, immerhin hat uns die Geschichte unzählige Male gelehrt, wohin staatlich geförderte Ausgrenzung führt. Zu meiner Überraschung erhalte ich einen lehrreichen Exkurs in indischer Geschichte. Nach dem Rückzug der britischen Kolonialmacht vom Subkontinent 1947 erhoben die beiden Nachfolgestaaten Indien und Pakistan Anspruch auf die Fürstenstaaten Jammu und Kaschmir. Als eine von Pakistan unterstützte Revolte in der Region ausbrach, bat die Führung Indien um militärische Hilfe. Indiens Bedingung war der formale Beitritt. Als dieser beantragt wurde, kam die indische Streitmacht zu Hilfe. Seitdem gab es immer wieder Kriege, Revolten und Konflikte zwischen beiden Staaten, die auch zu deren Nuklearisierung, sowie zur Gründung des Staates Bangladesch geführt haben. Mein Sitznachbar bedauert sichtlich, wie aus Menschen die einst das selbe Land geteilt hatten, erbitterte Erbfeinde werden konnten. Nach Schilderung der zahlreichen Vergehen, die beidseitig, aber dem Anschein nach vor allem von Pakistan begangen wurden, verstehe ich den Einreiseprozess nun ein bisschen besser, wenngleich ich ethnische Diskriminierung nach wie vor verurteile. Wir lenken das Gespräch auf ein neutraleres Thema und so schildert er mir die spannenden kulturellen Unterschiede, die ich bald erleben darf. Mein Reiseziel Pondicherry beschreibt er mir als wunderschönen Ort mit einer tollen Landschaft und offenen, herzlichen Menschen. Es ist jetzt Mitternacht, ich bin gespannt auf die nächsten beiden Wochen und freue mich umso mehr, in weniger als zwei Stunden zu landen. Währenddessen ist Gerhard, der sympathische Rosenheimer mit gewissen Bedenken, die er mir vorab in seinem Interview geschildert hat, ebenfalls in Kontakt mit seinem Sitznachbarn, wenn auch unfreiwillig. Der dezent adipöse, groß gewachsene Inder lehnt kuschelnd an dem gutmütigen Bayern und schläft tief und fest. Wenn doch nur jemand Gerhards etwas verlorenen und verzweifelten Blick auf einem Foto festgehalten hätte, es wäre das Buchcover geworden.
Mittwoch, 3. Januar 2018: Erste Eindrücke des Subkontinents
Nun ist