mich mit ins Watt zu nehmen?«
»Ein Insulaner hält, was er verspricht«, antwortete er und stand auf.
Eberhard nahm sein Fahrrad und stapfte energisch los. Sie hatte ein wenig Mühe, ihm zu folgen. Als er es bemerkte, verlangsamte er seine Schritte.
»Warst du schon im Museum?« Er deutete mit dem Kopf auf ein altes Haus, das sich hinter dem Süddeich versteckte.
»Nein, ich bin erst seit drei Tagen hier. Und die habe ich damit verbracht, meiner Tochter zu helfen. Soweit sie es zugelassen hat. Zwischendurch habe ich die Insel erkundet. Und gestern habe ich einen neuen Bekannten im Cobigolf geschlagen.« Sie schmunzelte.
»Tja, so schnell kann’s kommen«, überlegte Eberhard. »Da macht man seine übliche Runde mit dem Fahrrad, und was ist? Da fällt einem glatt eine Frau vor die Füße.«
Das war wirklich ein Schreck gewesen. Sie hatte sich beim Fellinis ein Eis gekauft. Sehr zum Entzücken einer mächtigen Silbermöwe. Als Hedda dem Angriff des imposanten Tieres ausweichen wollte, hatte sie nicht auf den Fahrradfahrer geachtet, der sie gleich unterhalb des Eisladens bei Mindermann überholte. Ihr erstes Zusammentreffen mit Eberhard Mettjes war ein wenig schmerzhaft gewesen.
»Ist sonst nicht meine Art, vor den Männern in die Knie zu gehen«, erklärte sie. »Aber in diesem besonderen Fall blieb mir nichts anderes übrig.«
»So habe ich dich von Anfang an nicht eingeschätzt«, antwortete Eberhard mit einer Wärme in der Stimme, die ihr Inneres beinahe völlig aus dem Ruder laufen ließ.
Sie rief sich zur Ordnung. Du kannst dich in deinem abgeklärten Alter nicht Hals über Kopf in einen wildfremden Mann verknallen, schalt sie sich. Sie wusste es besser: Sie konnte.
Am Hafen angekommen bogen sie links ab, am Häuschen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und am Bootshafen vorbei.
»Du solltest deine Hose hochkrempeln und die Schuhe ausziehen.« Eberhard zeigte auf seine bloßen Füße. »Du kannst alles hier liegen lassen, das klaut keiner.«
Sie zögerte einen Moment, dann zog sie entschlossen ihre Lieblingssandalen aus und stellte sie im Gras neben dem Weg ab.
»Auf geht’s.« Er nahm einen Wanderstock, der an seinem Hinterrad festgeklemmt war, und lief los.
Sie folgte ihm und schon bald lag die Weite des Wattenmeeres vor ihr. In der Ferne sah sie viele Menschen wie winzige Punkte knapp über dem Wattboden.
»Das sind alles Gruppen, die mit dem Schiff heute Morgen nach Baltrum gekommen sind und nun wieder mit einem erfahrenen Wattführer rüberlaufen nach Neßmersiel.«
»Wie lange …?«
»Gut zweieinhalb bis drei Stunden sind die unterwegs. Je nachdem, wie viel der Wattführer erklärt, wie der Wasserstand ist und so weiter.«
Ganz schön mutig, dachte Hedda. Sie war froh, dass die Silhouette der Insel noch zum Greifen nah war, obwohl sie schon eine ganze Weile keinen Bodenbewuchs mehr gesehen hatte. Stattdessen spürte sie feuchten, riffeligen Sand unter ihren Fußsohlen.
Eberhard bückte sich und strich mit den Fingern über den Boden. Dann grub er etwas aus. »Schau mal, eine Wattschnecke. Davon gibt es an die tausend pro Quadratmeter. Sie dienen vor allem den Wasservögeln als Nahrung.«
»Du kennst dich wirklich gut aus«, wunderte sie sich. »Wissen alle Insulaner so gut Bescheid im Wattenmeer?«
Eberhard lachte. »Nein, das wohl nicht. Ich war viele Jahre Wattführer. Aber dann hat mich die Arthrose erwischt. In den Knien. Mein Arzt hat gesagt, ich solle mir das mit dem Wattwandern gut überlegen. Offene Wanderungen sind für mich Vergangenheit. Ich gehe nur noch mit Gruppen, die sich bei mir anmelden. Nur noch wenige Male im Jahr. Übermorgen laufe ich mit dem Gartenbauverein Ennigerloh. Wenn du mitwillst …«
Hedda schaute ihn prüfend an. »Warum bist du mit mir hier, wenn es eigentlich nicht gut für deine Gelenke ist?«
»Weil ich nun mal gerne im Watt bin. Es ist eine faszinierende Landschaft, die ich dir gerne zeigen möchte. Außerdem macht meinen Knien so ein kleiner Exkurs nichts aus.« Eberhard nahm eine Muschel in die Hand. »Hier, siehst du? Eine Herzmuschel. Sie ist – warte mal – sieben Jahre alt.«
»Woran erkennst du das?«, fragte sie erstaunt. Sie konnte kaum glauben, dass so ein kleines Tier bereits so viele Jahre seinen Feinden hatte entkommen können.
»Du musst nur die Ringe zählen. Es sind Jahresringe. Genau wie bei Bäumen.«
Tatsächlich. Die einzelnen Abschnitte waren klar zu sehen.
»Ich setze sie wieder auf die Erde. Schau, was passiert.«
Hedda traute ihren Augen kaum. Die Muschel buddelte sich mit ihrem Grabefuß in kürzester Zeit wieder in den feuchten Sand. Da hatte natürlich eine Möwe keine Aussicht auf Erfolg. Zumindest bestand eine gewisse Chancengleichheit zwischen Fressen und Gefressenwerden. Das war immer wichtig im Leben, sinnierte Hedda. Dieses Prinzip hatte sie auch versucht ihren beiden Töchtern nahe zu bringen.
Allerdings musste sie zugeben, dass Petra in der Beziehung zu Jörg den dominanten Teil einnahm. Jörg war eher ein Sanfter, der sich alle Dinge mehrmals durch den Kopf gehen ließ, bevor er eine Entscheidung fällte. Der nie mit dem Kopf durch die Wand ging, sich ein … ja, fast kindliches Gemüt bewahrt hatte. Ein Mann, der mit dem auskam, was er durch seine Vorstellungen einnahm. Wenn es einmal nicht so gut lief, zum Beispiel in den Wintermonaten, in denen die Auftritte in den Nordseebädern wegfielen, reichte ihm weniger zum Leben. Dann blieb ihm nur das Honorar von Kindergeburtstagen oder seltenen Gastspielen in den Kinderbespaßungsfabriken unter Dach, die sich inzwischen selbst in den kleinsten Orten etablierten. Wie sagte er immer? »Eine Rutsche, eine Ecke voll mit bunten Bällen, Cola, Eis und ein Hamburger – das reicht, um Kinder von heute glücklich zu machen. Denken zumindest die Betreiber solcher Hallen. Und viele Eltern, nicht zu vergessen.« Seiner Meinung nach fehlte Entscheidendes: Die Fantasie der Kinder zu wecken, und der Wille, sich mit den Kindern zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen.
Hedda bewunderte ihren Schwiegersohn für seine Geduld. Sie war zeitlebens ungeduldig gewesen. Wenn nicht alles sofort klappte, konnte sie unangenehm werden. Das hatten ihre beiden Kinder ebenfalls erfahren müssen.
»Jetzt graben wir einen Wattwurm aus«, schreckte Eberhard sie aus ihren Gedanken und zeigte auf eines von Millionen geringelter Sandhäufchen, die den Wattboden bedeckten. Sie ließ sich von seinen spannenden Erklärungen gefangen nehmen und merkte kaum, wie die Zeit verstrich.
»So, da wären wir wieder. Herzlichen Glückwunsch zur ersten erfolgreich absolvierten Wattwanderung.«
Schon hatten sie wieder die Stelle erreicht, an der sie ihre Schuhe abgelegt hatte.
»Ich lade dich zu einem Kaffee im Verhungernix ein. Wie wär’s?«, schlug sie vor, als sie wieder auf der Hafenstraße standen. Sie hoffte, dass er zustimmte und sie noch ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten.
Gerade als er antworten wollte, klingelte es in seiner Jackentasche. Er fummelte sein Handy heraus. »Hallo, Hans. Schön, dass du zurückrufst. Gab’s die Sachen im Baumarkt? Nein? Aber eine Leiche? Wo? Aha. Das ist ein Ding. Sachen gibt’s.« Eberhard hörte einen Moment schweigend zu, dann sagte er: »Ich melde mich später über Festnetz«, und verstaute das Telefon wieder in seiner Jacke.
Hedda wartete ungeduldig auf eine Erklärung. Warum sagte er nichts?
Stattdessen schaute er auf seine Armbanduhr.
»Also, was ist nun? Wir trinken Kaffee und du erzählst mir alles über die Leiche.«
Doch Eberhard schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht. Ich muss los. Das Mittagessen wartet.«
»Aber über die Leiche wirst du mir wohl kurz noch berichten können, oder?«, versuchte Hedda es erneut.
»Mein Freund Hans wohnt in Bensersiel. Ich hatte ihn gebeten, mir ein paar Dinge aus dem Baumarkt zu besorgen. Das macht er gerne. Er bringt sie dann zum Schiff