haben sie im Hafenbecken von Bensersiel gefunden. Mehr wusste Hans nicht. Nur, dass der Tote weiße Handschuhe getragen haben soll. Aber du weißt, wie das mit solchen Wahrheiten ist«, fügte Eberhard hinzu. »Jetzt muss ich aber wirklich. Bis später.«
Ehe sie fragen konnte, wann sie sich wiedersehen würden, hatte er seinen Stock am Fahrrad festgeklemmt und fuhr Richtung Nationalparkhaus. Komisch, dachte sie, das ist heute bereits das zweite Mal, dass sich jemand einer Antwort durch Flucht entzieht. Bin ich denn so unerträglich? Und außerdem – wer wartete mit dem Mittagessen auf ihn? Seine Frau? Hedda hatte ihn tatsächlich noch nicht nach seinem Familienstand gefragt. Das wäre ein Ding … Sie erlaubte ihren Gefühlen heimlich die wildesten Sprünge und Eberhard fuhr womöglich zum Mittagessen im Kreis seiner Lieben!
Nichts da. Sie würde ihrem Überschwang einen Riegel vorschieben. War sowieso lächerlich. In ihrem Alter. Sie würde ins Hotel Sonnenstrand zurückkehren und schauen, ob ihre Tochter das Probefrisieren erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Und sich wieder in den Dienst der Hochzeitsvorbereitungen stellen.
Wer wohl der Tote war? Was hatte Eberhards Freund gesagt … der trug weiße Handschuhe? Hedda schien der Magen plötzlich wegzusacken. Trugen Clowns nicht weiße Handschuhe? Trug Jörg bei seinem Auftritt nicht immer weiße Handschuhe? War sein Auftritts-Termin gestern am Festland nicht in Esens gewesen? Und lag Esens nicht in der Nähe von Bensersiel? Oder übernachtete er nur in Esens und sein Auftritt war in Bensersiel? Sie konnte sich nicht erinnern.
Ihre Knie zitterten, als sie das Hotel erreichte. Sollte sie Petra berichten, was sie gehört hatte? Oder machte sie damit nur die Pferde scheu? Bastelte sie sich da reinen Blödsinn zusammen? Langsam ging sie hoch in den ersten Stock und blieb vor Petras Zimmer stehen. Sie hörte die laute Stimme ihrer Tochter. Was sollte sie tun? Hedda klopfte und öffnete vorsichtig die Tür.
Petra telefonierte gerade, winkte sie aber rein. Ihre Tochter sah erbost aus. Sie knallte das Handy auf den Tisch und ließ sich auf ihr Bett fallen. »Dieser Idiot. Dieser verfluchte Idiot …«
»Was ist denn los?«
»Jörg. Er geht einfach nicht ans Telefon. Ich muss doch wissen, wann er kommt! Schließlich steht das Probeessen an. Nicht mal der Chef vom Sturmfrei in Neßmersiel konnte ihn erreichen. Da hat er sich nämlich auch noch nicht blicken lassen. Echt peinlich, dieser Anruf.«
»Er wird bestimmt rechtzeitig da sein«, versuchte sie Petra zu beruhigen. Heddas Stimme hielt, doch die Angst saß ihr im Nacken. Was wäre, wenn doch … wenn Jörg überhaupt nicht mehr käme? Wenn sein Telefon mit ihm im Hafenbecken …? Hedda stöhnte leise auf. Ihr Kreislauf meldete sich. Wie immer, wenn ihr etwas großes Unbehagen bereitete. Was sollte sie machen? Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte recht mit ihrer Vermutung – dann würde ihr Petra nie verzeihen, dass sie nichts gesagt, nicht reagiert hatte. Oder sie bildete sich alles nur ein. Dann war es unverzeihlich, ihre Tochter dermaßen aufzuregen. Hedda wünschte sich Eberhard herbei. Der hätte bestimmt eine Lösung für ihr Problem.
Hastig stand sie auf. Ein Fehler. Alles drehte sich um sie herum und sie ließ sich wieder in den Sessel sacken. Sie musste hinüber in ihr eigenes Zimmer. Sich beruhigen. Nachdenken. Damit das Drehen in ihrem Kopf ein Ende fände. Konnte sie ihre Tochter alleine lassen? Was, wenn gleich ein Anruf kam? Ein Anruf, der Petras Zukunft zerstörte?
Mühsam erhob sie sich ein zweites Mal. »Ich gehe mal eben rüber. Bin gleich wieder da.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, zog den Schlüssel aus ihrer Jackentasche und tastete sich über den Flur. Immer an der Wand lang. Ihr Zimmer lag nur ein paar Schritte weiter.
Gerade als sie aufschließen wollte, hörte sie hinter sich ein fröhliches »Hallo, Frau Bramlage, warten Sie. Ich hätte da noch eine Frage. Wegen heute Abend.«
Frau Ahlers. Bloß jetzt nicht. Hedda konnte nicht klar denken. Geschweige denn Fragen beantworten. »Ich muss mal eben – bin gleich bei Ihnen.« Mit letzter Konzentration drehte sie den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke. Sie wankte in ihr Zimmer und schaffte es gerade noch, hinter sich wieder abzuschließen.
Aufatmend ließ sie sich in den bequemen Ohrensessel fallen. Aber sie konnte die Frau nicht warten lassen. Die Chefin hier hatte genug zu tun. Sie waren nicht die einzigen Gäste. Nur einen Moment noch. Einen kleinen Moment. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, ganz bewusst, so wie sie es bei ihrer Physiotherapeutin gelernt hatte.
Als sie wieder aufsah, wurden die zarten gelb-grünen Linien auf den Tapeten wieder Linien und die bunten Blüten des Sommerstraußes auf den Couchtisch bekamen ihre klaren Formen zurück. Nach einer guten Viertelstunde fühlte Hedda sich wieder bereit für das Leben.
Wo war Frau Ahlers? In der Ferne hörte Hedda das Summen eines Staubsaugers. Sie folgte dem Ton und fand die Hotelchefin im Frühstücksraum.
Frau Ahlers stellte den Motor ab. Mit gekonntem Schwung nahm sie die Stühle, die auf einem der Tische gestapelt waren, herunter. »Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz. Eine Frage habe ich wegen des Fisches für heute Abend … Frau Bramlage? Was ist mit Ihnen?«
Hedda schien es, als ob sie gerade aus einem tiefen Traum aufwachte. Sie zwinkerte mit den Augen. Vor ihr saß Frau Ahlers und schaute sie erstaunt an. Hedda hatte sich wohl ein wenig zu schnell hingesetzt. Dann war ihr wieder schwindelig geworden.
»Hallo, Frau Bramlage! Soll ich den Arzt holen?«
Nein, bloß das nicht. Das konnte Hedda gar nicht gebrauchen. Und ihre Tochter noch weniger. Ihre Tochter … Sie musste sofort wieder zu ihr. Wenn nun der Anruf bereits …. Hedda versuchte aufzustehen. Vergebens.
»Frau Bramlage!«
Sie hörte die Besorgnis in Frau Ahlers’ Stimme und murmelte: »Kein Arzt. Ich muss Ihnen was erzählen.«
*
Als der Anruf von Birgit Ahlers kam, bemühte sich Kriminaloberkommissar Michael Röder gerade mit Hilfe seines Kollegen Geerd Ulferts, die Fenster der kleinen Wache zu putzen. Genauer gesagt: Röder hatte sich von seiner Frau Sandra Eimer, Lappen und Reinigungsmittel ausgeborgt, und Ulferts putzte.
»Was sagst du? Ein Toter in Bensersiel?« Erstaunt hörte sich Röder an, was Birgit zu berichten hatte.
»Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß«, versprach er, dann rief er in Esens an. Er sprach mit Marlene Jelden, einer jungen Kripobeamtin, die er ein paar Wochen zuvor kennengelernt hatte. Sie bestätigte ihm, dass man tatsächlich eine Leiche im Hafenbecken gefunden habe. Auch dass der Mann weiße Baumwollhandschuhe getragen habe.
Näheres konnte die Kommissarin jedoch noch nicht sagen. Weder, wie der Mann hieß, noch Einzelheiten zur Todesursache seien bisher bekannt, erklärte Marlene. »Fakt ist, dass die roten Druckstreifen am Hals auf Erdrosselung hinweisen könnten. Ich hoffe mal, dass wir bald etwas Genaueres erfahren.«
»Hast du wenigstens eine Beschreibung?«, fragte Röder. »Die Gastdame hier macht sich große Sorgen, dass es sich um ihren angehenden Schwiegersohn handeln könnte. Wegen der Handschuhe. Er ist nämlich Clown, musst du wissen. Und er hatte einen Auftritt in Bensersiel.«
Röder hörte ein verknautschtes Lachen. »Tja, man soll keine Möglichkeit außer Acht lassen. Also, zum Mitschreiben: Zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Blondes, halblanges Haar. Kurze, beige Hose und blaues T-Shirt mit Schalke-Logo. Ich glaube nicht, dass der Mann von Beruf Clown war. Aber wiederum … mit diesem T-Shirt … man weiß es nicht.«
»Ich denke, ich kann Entwarnung geben«, sagte Röder. »Die Beschreibung, die ich bekommen habe, hört sich anders an. Die Dame sprach von einem Mann Ende dreißig mit schwarzen Haaren. Dass er Schalke-Fan sei, hat sie nicht erwähnt. Melde dich, wenn es was Neues gibt.«
Marlene Jelden versprach’s.
Geerd Ulferts schaute Röder neugierig an, während er das Fenster mit einem trockenen Tuch nachrieb. Michael Röder wiederholte, was die Esenser Kollegin berichtet hatte. »Kennst du eigentlich Marlene?«
Geerd, der normalerweise seinen Dienst in Dornum versah und für vier Wochen auf die Insel abkommandiert war, lächelte.