Obergeschoß waren ein Raub der Flammen geworden. Ebenso der angrenzende Schuppen. Oder war das eine Garage gewesen? So genau ließ sich das im Dunkeln nicht feststellen.
Unwillkürlich kam Sandra die Brandleiche im Vulkanland in den Sinn. Der Anblick des verkohlten Körpers mit den abgespreizten Armen und den angewinkelten Beinen hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Fechterstellung nannten die Mediziner diese Haltung, die durch die hitzebedingte Schrumpfung der Muskeln und Sehnen zustande kam. Die Oberhaut platzte auf, was den typischen Eindruck von Schnittverletzungen bei Brandopfern hinterließ. Wurde der Dampfdruck im Schädelinneren zu hoch, barst die Schädeldecke. Sandra spürte Übelkeit aufkommen. Wenngleich ihr ein ähnlich grausiger Anblick diesmal erspart bleiben würde. Die Brandleiche war längst nach Graz überstellt worden, wo sie am Montag, gleich in der Früh, obduziert werden sollte. Der Leichenöffnung in der Gerichtsmedizin wollte Bergmann beiwohnen, wofür sie ihm insgeheim sehr dankbar war. Sie öffnete ihren Sicherheitsgurt, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch, während der Chefinspektor im Handschuhfach nach der Taschenlampe kramte. Die leuchtete weiter als die Handy-App.
Als Sandra wieder aufblickte, sah sie zwei uniformierte Kollegen, eine Frau und einen Mann, die geschickt auf die Brandruine zuschlitterten. Das andere Paar in Zivilkleidung, das sie vom LKA in Graz kannte, folgte ihnen weitaus vorsichtiger.
Dem Wagen entstiegen, setzte Sandra ihre Haube auf und zog den Reißverschluss ihres Anoraks bis zum Kinn hoch. In der Nähe des »Steirischen Meers«, wie der Grundlsee als größter See der Steiermark auch genannt wurde, fühlten sich die minus neun Grad Celsius, die das Außenthermometer zuletzt angezeigt hatte, noch kälter an. Sie ließ ihre Hände in die Handschuhe gleiten und wickelte den Wollschal mehrfach um ihren Hals.
Bergmann rutschte aus, konnte sich aber wieder fangen. Der Kraftausdruck, der seinem Mund entwich, bildete eine Atemwolke vor seinem Gesicht, die sich rasch auflöste.
Selbst schuld, dachte Sandra. Warum zog er keine Winterschuhe an? Kein vernünftiger Mensch trug zu dieser Jahreszeit Sneakers. Schon gar nicht in den Bergen. Dafür Haube und Handschuhe. Sein dünner Baumwollschal eignete sich bestenfalls für den Herbst oder fürs Frühjahr. Seine Jacke zählte bestimmt auch nicht zu den allerwärmsten.
»Aufpassen!«, rief ihnen die Landpolizistin zu. »Haltet’s euch weiter links, damit’s net herfallt’s!«
»Ich falle nicht her, sondern höchstens hin«, schnauzte Bergmann zurück. Als ob die abweichenden Ausdrücke der Wiener und Steirer einen Unterschied gemacht hätten. Lag er erst einmal auf dem Boden, war das Ergebnis dasselbe.
Sandra konzentrierte sich wieder auf sich selbst. Wie damals in Oberlamm stieg ihr beißender Brandgeruch in die Nase, der sich auf ihre Zunge legte. Erneut kamen die Bilder der verkohlten Brandleiche hoch. Prompt drehte sich ihr der Magen um. Gleichzeitig versuchte sie, nicht auszurutschen und den brandigen Geschmack hinunterzuwürgen.
Bergmann, der ihr folgte, schafft es ebenfalls, nicht her- beziehungsweise hinzufallen.
»Griaß enk!« Die Inspektionskommandantin aus Bad Aussee stellte ihren rangniedrigeren Kollegen und sich selbst vor.
Sandra nannte im Gegenzug ihren und Bergmanns Namen.
Der Chefinspektor wandte sich direkt an den Experten des LKA. »Wir haben es also mit Brandstiftung zu tun?« Sein Blick folgte dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, der über Schutt und Asche tanzte.
»Das Feuer wurde zweifelsfrei vorsätzlich gelegt«, bestätigte der Kriminaltechniker und zauberte einen Plan des Hauses hervor, den er aufgefaltet der Kollegin in die Hände drückte, um ihn hernach mit seiner Taschenlampe zu beleuchten. »Der Spürhund hat an mehreren Stellen angeschlagen. Im Erdgeschoß, hier und da.« Sein Finger zeigte auf die Punkte, an denen Brandbeschleuniger eingesetzt worden war. »Auch im Obergeschoß konnten wir zwei Brandherde ausmachen.« Die Taschenlampe senkte sich wieder. »Jedenfalls wusste der Brandstifter, wie man es anstellt, dass die Flammen möglichst rasch das gesamte Haus erfassen.«
»Und mit dem Haus auch die Frau«, sagte Bergmann. »Hat der Hund auch bei der Leiche angeschlagen?«
»Er war erst heute Nachmittag am Tatort, nachdem die Leiche bereits in die Gerichtsmedizin überstellt wurde.«
»Dann werden wir dort klären müssen, ob die Leiche mit dem Brandbeschleuniger in Kontakt gekommen ist. Die Vermutung, dass hier jemand versucht hat, die Spuren einer Gewalttat durch Brandzehrung zu beseitigen, liegt jedenfalls nahe.«
Der Brandexperte stimmte dem Chefinspektor zu. »Das ist ihm auch gelungen. Außer dem Brandbeschleuniger konnten wir keine tatrelevanten Spuren im Haus sicherstellen«, sagte er. »Unter Umständen liefert uns die chemische Analyse einen Hinweis. Es dauert allerdings einige Tage oder sogar Wochen, bis uns das Laborergebnis vorliegt.«
»Die Obduktion wird zumindest klären, ob die Frau gelebt hat, als das Feuer ausgebrochen ist«, sagte Bergmann. »Oder ob ihre Leiche verbrannt wurde. Damit wären wir dann schon etwas schlauer.« Er trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten, was ihm auf Dauer kaum gelingen würde.
Sandra machte momentan weniger die Kälte als ihre Übelkeit zu schaffen.
»Wie gesagt, der Täter ist planvoll vorgegangen«, fuhr der Brandexperte fort. »Brandbeschleuniger und Zündquellen waren optimal positioniert. Die Fensterscheiben in den Veranden müssen zuerst geborsten sein. Durch den Sauerstoff, der in der Folge in das Haus gesogen wurde, hatten die Flammen leichtes Spiel. Das Feuer konnte sich zügig über die Dachbalken und Sparren ausbreiten, bis das Dach einstürzte.
Auch die Garage und das darin abgestellte Fahrzeug wurden erfasst. Wir haben einen ausgebrannten Kastenwagen sichergestellt und nach Graz abgeschleppt, um ihn dort nach Spuren zu untersuchen. Es handelt sich dabei um ein französisches beziehungsweise italienisches Modell aus demselben Autokonzern.«
»Wie lange hat es vom Entzünden des Feuers bis zum Eintreffen der Feuerwehr ungefähr gedauert?«, erkundigte sich Bergmann.
»Schwer zu sagen. Ich schätze, zwischen ein und zwei Stunden. Kommt auf das Baumaterial des Hauses und die Einrichtung an.«
»Und wo wurde die Leiche aufgefunden?«, wollte Bergmann wissen.
»In ihrem Bett. Oder was davon noch übrig war, nachdem es verbrannte. Wir haben Metallstücke sichergestellt, bei denen es sich um die Reste von Taschenfedern handeln dürfte, wie sie in Matratzen verwendet werden. Einige haben sich regelrecht in die Leiche eingebrannt.«
»Wo war denn das Schlafzimmer?«, hakte Bergmann nach.
»Im Obergeschoß.« Der Kollege zeigte auf die entsprechende Stelle am Grundrissplan. »Laut Hausbesitzerin haben sich dort drei weitere Schlafzimmer und zwei Bäder befunden.«
»Laut Hausbesitzerin?«, wunderte sich Bergmann. »Die ist doch verbrannt, dachte ich.« Er wandte sich erstmals an die Landpolizisten.
»Oane von zwoa«, erklärte der Uniformierte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Bergmann den älteren kleineren Mann von oben herab an. »Wie meinen?«
»Eine von zwei«, übersetzte seine etwas jüngere ranghöhere Kollegin, die ihn auch mit ihrer Körpergröße überragte. »Es haben zwei Schwestern in dem Haus gewohnt. Lex Lilli und Lex Luise.«
»Unter uns Dosign hoaßen s’ Liesl und Loisl«, erläuterte der Polizist.
»Und welche von beiden ist verstorben?«
»Die Loisl.«
»Luise Lex. Lilli Lex war nicht daheim, als es gebrannt hat«, erläuterte die Kollegin.
»Aha, die Dame hat demnach woanders genächtigt?«, fragte Bergmann.
»Nein, sie war in der Arbeit, als ich sie von dem Brand verständigt hab’«, berichtete die Landpolizistin weiter.
»Und wer hat den Brand gemeldet?«
»Der Gaiswinkler Werner von der Sonnseit’n.« Der Polizist streckte seinen Arm aus, um über die Brandruine und den Grundlsee