»Seit ich auf Tournee bin, gar nichts mehr«, erwiderte er tonlos. »Aber ich glaube, daß Lorna es verhindert hat. Ich war ja kaum eine Minute unbewacht. War ich in meinem Hotelzimmer, wurde das Telefon abgestellt. Damit ich angeblich nur ja Ruhe hätte. Ach, es läßt sich nicht schildern. Manchmal hasse ich Lorna, dann tut sie mir leid. Sie hat so viel Geld. Sie weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Es ist doch traurig für solch eine Frau, wenn sie das einzige Kind verliert.«
Isabel dachte an die eiskalten Augen dieser Frau und empfand augenblicklich kaum Bedauern. Aber vielleicht waren diese Augen nicht immer so kalt, vielleicht nur dann, wenn jemand in Erscheinung trat, der etwas von David wollte, der etwas von seiner Zeit beanspruchte.
Gewiß war auch David Delorme augenblicklich ein Fall für einen Arzt, aber Lorna Wilding war dies möglicherweise viel mehr.
Hoffentlich kam Daniel nun bald. Sie wußte nicht mehr, was sie mit David reden sollte. Sie konnte ihn doch nicht am laufenden Band ausfragen!
Da war sie ganz unerwartet in eine verflixte Situation geraten. Sie hatte gemeint, ein interessantes Exklusivinterview von David zu bekommen, und nun saß er vor ihr wie ein hilfloses, verlorenes Kind, nicht wie ein Genie, wie ein Star, der raketenhaft am Himmel aufgegangen war.
*
Daniel sah Isabels Wagen vor dem Hause stehen. Er erkannte ihn sofort. Er war in seinem kräftigen Gelb kaum zu übersehen, und im Rückfenster klebte das Schild »Presse«.
Er runzelte die Stirn. Was wollte Isabel von ihm?
Wenige Sekunden später schloß er seine Wohnungstür auf und Lenchen, die doch so schwerhörig war, kam sogleich aus der Küche.
»Es ist Besuch da«, sagte sie, »ein Herr und eine Dame.«
Ein Herr und eine Dame, also war Isabel nicht allein gekommen. Es beruhigte ihn. Und Lenchen schien auch nicht pikiert. Das beruhigte ihn noch mehr. Sie hatte sehr moralische Ansichten.
Fassungslos blickte er dann aber David Delorme an.
»Endlich bist du da«, sagte Isabel erleichtert. »Wir warten schon lange. Das ist Dr. Norden, David!«
Es überraschte Daniel, daß sie ihn schon beim Vornamen nannte. David hatte sich erhoben und machte eine linkische Verbeugung, die deutlich seine Unsicherheit verriet.
»David braucht Hilfe«, sagte Isabel. »Er ist mit den Nerven am Ende.«
Er sah sie mißtrauisch an. Das hatte sie ihm doch gestern schon einzureden versucht. Man würde ihn fertigmachen, hatte sie behauptet.
»Soll ich erst allein mit Dr. Norden sprechen, David?« fragte Isabel.
Er nickte geistesabwesend. »Excuse me, Sir«, sagte er entschuldigend.
»Möchten Sie vielleicht ein paar Minuten auf die Dachterrasse gehen?« fragte Daniel, der sich von seiner Überraschung noch immer nicht erholt hatte.
»Sehr gern.« Als er so dahinging, wirkte er fast unscheinbar. Faszinierend wurde er wohl nur durch sein Spiel.
In ihrer kurzen, prägnanten Ausdrucksweise schilderte Isabel, was geschehen war. Es war unmißverständlich.
»Das kann ja wirklich zu einer Psychose ausarten, bei ihm wie auch bei Lorna Wilding«, sagte Daniel nachdenklich. »Aber was soll ich mit ihm machen? Ich kann ihn doch nicht einsperren? Verbergen kann ich ihn auch nicht.«
»Oh, ich hätte da aber schon eine Idee«, sagte Isabel. »Die Insel der Hoffnung!«
»Sollen wir gleich mit einem Skandal beginnen?« fragte er irritiert.
»Ärzte haben Schweigepflicht, und du hast mir erzählt, daß dort niemand unter seinem Namen in Erscheinung treten soll. Allein der Mensch gilt.«
»Er ist aber doch schon ein bekannter Mann«, wendete er ein
»Auf dem Podium. Aber wenn er einem auf der Straße, in einem gewöhnlichen Anzug begegnet, erkennt man ihn doch kaum«, erklärte Isabel. »Ich wäre bestimmt an ihm vorbeigelaufen.«
»Erst werde ich mich mit ihm unterhalten«, sagte Daniel. »Meine Zeit ist heute aber sehr begrenzt. Ich muß noch viel erledigen. Das ist ein Tag«, fügte er seufzend hinzu. »Ich gehe jetzt zu ihm.«
»Kannst du dich allein mit ihm verständigen?« fragte Isabel.
»Na, hör mal, soviel englisch werde ich doch noch zusammenbringen«, lächelte er. »Ganz einseitig bin ich ja auch nicht begabt.«
Aber David war vor allem davon angetan, daß Daniel soviel von Musik verstand. Seine Miene lockerte sich, und er war plötzlich wie umgewandelt.
»Sie glauben ja nicht, was es bedeutet, mal wieder mit einem Menschen reden zu können.«
»Es reden doch sicher viele Menschen mit Ihnen«, sagte Daniel.
»Menschen? Ich weiß nicht. In mir sehen sie doch auch keinen Menschen. Ich passe nicht in diese Welt. Man wird so schnell hineinprogrammiert und dann ebenso schnell wieder fallengelassen.
»Aber jetzt machen Sie doch viele Menschen mit Ihrer Musik glücklich«, sagte Daniel.
»Die sie wirklich verstehen, wie ich sie verstehe, fallen nicht über mich her«, sagte David. »Ja, für diese Menschen spiele ich. Ich sage es mir immer wieder, bevor ich mich an den Flügel setze, sonst hätte ich gleich nach den ersten Konzerten kapituliert. Man will mich zu einem Star machen, aber ich werde nie einer werden. Ich bin in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und selbst mein Vater konnte mich nicht verstehen. Wie sollte er es auch. Für ihn war ich auch ein Wundertier. Und ich möchte doch nur gern so spielen, wie ich fühle.«
»Das müssen Sie auch, sonst werden Sie unglücklich, David«, sagte Daniel. »Sie können gar nicht glücklich sein ohne Ihre Musik.«
»Aber es darf niemand hinter mir stehen und mich hetzen. Ich ertrage
diesen Zwang nicht. Ich war Lorna dankbar, als sie Interesse an mir nahm, aber ich konnte doch nicht ahnen, daß es in ein Besitzergreifen ausarten würde.«
»Vielleicht empfindet sie es gar nicht so. Man muß es ihr begreiflich machen.«
»Ich kann das nicht. Sie ist mir so überlegen. Ich möchte auch nicht undankbar erscheinen. Ich brauche einfach Ruhe, um nachzudenken und wieder zu mir selbst zu kommen.«
Und da machte ihm Daniel doch den Vorschlag, die Insel der Hoffnung aufzusuchen.
»Es klingt gut«, sagte David gedankenvoll. »Aber was wird Lorna sagen?«
»Jemand wird es ihr klarmachen. Vielleicht Isabel. Aber zuerst werden wir ihr nur eine Mitteilung übersenden. Wie lange haben Sie Zeit bis zum nächsten Konzert?«
»Zwei Wochen.«
»Das geht ja schon.«
»Aber Lorna wollte mit mir an die Riviera fahren«, sagte David leise. »Sie hat dort ein Haus.«
»Das wäre nun gerade nicht das Richtige«, meinte Daniel. »Aber entscheiden müssen Sie.«
»Ja, ich bedenke es und danke Ihnen. Ich möchte diese Insel der Hoffnung kennenlernen. Ich brauche Hoffnung. Es könnte doch ein langes Leben vor mir liegen. Wie soll ich es durchstehen, wenn ich jetzt schon auf schwankendem Boden stehe.«
Das sah er wenigstens klar. Daniel fand das gut.
»Wenn Sie wollen, können Sie bei mir bleiben«, sagte er. »Sie können morgen mit mir oder mit Isabel fahren, sofern sie Zeit hat. Und Isabel muß halt mit Mrs. Wilding sprechen. Ich muß mich noch um Patienten kümmern, aber Lenchen wird sich um Sie kümmern, wenn ich es ihr sage.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Norden«, sagte David. »Ich habe jetzt wirklich schon etwas mehr Hoffnung.«
*
Sehr erbaut war Isabel von dem Vorschlag nicht, daß sie Lorna Wilding informieren sollte. »Natürlich