Dein Vater war mein Freund. Leider konnte er diesen Tag nicht erleben. Aber du bist auch mein Freund, und ich kann deine Verdienste nicht schmälern. Es würde mich Tag für Tag verfolgen, daß ein Mensch, ein Patient oder wer immer es sein mag, denken könnte, daß ich allein dies vollbracht hätte. Und jetzt möchte Frau Seidel, unsere erste Patientin, ein paar Worte sagen.«
Da stand sie, schmal und klein und jetzt doch nicht mehr so verschüchtert.
»Was soll ich anderes sagen, als daß ich Dr. Norden so unendlich viel zu verdanken habe«, tönte ihre Stimme vernehmbar durch den Raum. »Welcher Arzt kümmert sich heutzutage schon um eine alte Frau, die nichts besitzt und keine hohen Rechnungen bezahlen kann. Dr. Norden hatte immer Zeit für mich. Und nun hat er mir auch noch diese große Freude bereitet.«
Tränen rannen über ihre Wangen und vor Rührung und Ergriffenheit konnte sie nicht mehr weitersprechen.
Daniel war aufgestanden und ging zu ihr. »Sie haben es gut gemeint, Frau Seidel«, sagte er leise, dann ging er mit schnellen Schritten hinaus.
»Mußte das sein, Paps?« fragte Felicitas ihren Vater.
»Frau Seidel wollte ihre Dankbarkeit ausdrücken«, erwiderte Dr. Cornelius. »Aber ich glaube fast, wir reden aneinander vorbei, Fee. Wir werden uns noch einmal sehr ernsthaft unterhalten müssen. Es mag sein, daß dir die Reife oder das Verständnis fehlt.«
»Frau Guntram bringt es ihm sicher entgegen«, sagte Felicitas mit bebender Stimme, denn sie sah, daß nun auch
Isabel hinausging.
»War das falsch?« fragte Frau Seidel Molly, die neben ihr saß. »Ist Dr. Norden mir jetzt böse?«
»Aber nein, Frau Seidel«, sagte Molly tröstend. »Unser Doktor mag nur keine Ovationen.«
*
Isabel war Daniel gefolgt. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.
»So kenne ich dich gar nicht, Dan«, sagte sie sanft. »Warum sollte unausgesprochen bleiben, was wahr ist?«
»Warum muß gesagt werden, was selbstverständlich sein sollte, Isabel?« fragte Daniel leise.
»Ich verstehe Dr. Cornelius und ich verstehe auch Frau Seidel. Ich bin ganz ihrer Meinung, auch wenn es dir nicht behagt. Idealismus ist gut, aber allzu edel brauchst du auch nicht zu sein.«
»Ich bin nicht edel«, sagte Daniel aggressiv. »Fang du bloß nicht auch noch damit an. Herrgott, Isabel, nennen wir doch die Dinge mal beim Namen. Ich bin als Kind wohlhabender Eltern geboren worden. Ich habe nie zu kämpfen brauchen, wie zum Beispiel David Delorme, oder auch du. Mußtest du kämpfen?«
»Und wie«, erwiderte Isabel.
»Na, siehst du. Du und David habt es in jungen Jahren zu etwas gebracht. Die gute Frau Seidel nie. Die Güter des Lebens sind ungerecht verteilt.«
»Du bist ein seltsamer Zeitgenosse, Dan«, sagte Isabel nachdenklich.
»Wieso denn? Weil ich nach einem Ausgleich strebe? Soll es mir noch besser gehen, als jetzt? Ich habe doch alles. Ich führe ein sehr angenehmes Leben und brauche keine Opfer zu bringen.«
»Aber du vergißt die Ärmeren nicht«, sagte sie.
»Und das muß an die große Glocke gehängt werden? Das ist doch Unsinn. Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr. Warum mußte Hannes davon anfangen?«
»Vielleicht, um seiner Tochter einen Nasenstüber zu geben«, sagte Isabel.
Daniel sah sie bestürzt an. »Er liebt Fee doch über alles.«
»Deshalb muß er doch nicht alles akzeptieren, was sie tut und denkt.«
»Du magst Fee nicht?« fragte Daniel.
»Ich finde sie reizend«, erklärte Isabel lächelnd, »aber sie verkennt dich. Allerdings gäbe es auch noch eine andere Erklärung fiir ihre Widerspenstigkeit.«
»Welche?«
»War einmal etwas zwischen euch?«
Daniel sah sie bestürzt an. »Du liebe Güte, nein. Sie ist doch kein Mädchen, mit dem man flirtet und es wieder beiseite schiebt.«
»Nein, das ist sie gewiß nicht.«
»Ich kenne sie von Kindheit an, aber du darfst nicht übersehen, daß ich neun Jahre älter bin als sie.«
»Vielleicht gefällt es ihr nicht, daß du sie noch immer als Kind betrachtest.«
»Das ist übertrieben. Sie hat ihr Medizinstudium bereits beendet. Für ein Mädchen wahrhaft eine Leistung. Aber lassen wir das Thema, Isabel.«
Es war ihm unbequem. Er hatte heute ohnehin schon mehr als je zuvor über Felicitas nachdenken müssen, als er sie neben David sitzen sah. Er schien ihr sehr zu gefallen, und obgleich es kaum einen größeren Kontrast im Äußeren zwischen zwei Menschen geben konnte, er wirkte neben ihrer blonden Schönheit fast wie ein Zigeuner, schien es manche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu geben.
Vielleicht brauchte sie einen Partner, der sensibel war wie sie selbst und der ganz auf sie einging.
»Na, hoffentlich verliebt sich unser Schützling nun nicht in die blonde Fee vom Rosensee«, sagte Isabel mit leichtem Spott.
Sie wußte nicht, daß Fee diese Worte hörte und auch Daniels Erwiderung darauf. »Warum nicht?« sagte er betont gleichmütig.
Felicitas ballte ihre schmalen Hände zu Fäusten, so fest, daß sich die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen gruben.
Wäre sie noch ein paar Sekunden stehengeblieben, hätte sie hören können, wie Isabel sagte: »Ich denke, daß dir das gar nicht so gleichgültig wäre, wie du tust, Dan.«
»Und was denkst du noch?« fragte er sarkastisch.
»Daß du eifersüchtig bist.«
»Jetzt muß ich aber wirklich lachen.« Doch das Lachen klang ziemlich gequält, und dann ging er wieder hinein.
Man konnte es als unhöflich bezeichnen, daß er Isabel einfach stehen ließ, aber sie nahm es ihm nicht übel. Sie hatte in dieser Stunde jede Hoffnung begraben, daß sie Daniel einmal mehr sein könnte als nur eine Freundin. Nur? War Freundschaft nicht etwas Wunderschönes? Konnte sie am Ende nicht wertvoller sein als eine Liebe, die doch keinen Bestand hatte?
Gedankenverloren ging sie durch den Park. Die Stille umfing sie, teilte sich ihr mit und brachte ihre zwiespältigen Empfindungen zum Schweigen.
Noch jemand suchte diese Ruhe. Ganz plötzlich stand Dr. Schoeller vor Isabel. Sie war richtig erschrocken, als er hinter dichten Büschen vor ihr auftauchte.
»Verzeihung«, sagte er höflich, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte nicht, daß noch jemand hier draußen wäre.«
»Es ist ein herrlicher Abend«, sagte Isabel. »Ich wollte ihn genießen, bevor ich morgen in die laute, dunstige Stadt zurückkehre.«
»Die Sie aber brauchen«, sagte Dr. Schoeller.
Verwundert sah sie ihn an. »Ja, sicher brauche ich sie. Auf dem Lande passieren keine aufregenden Dinge, über die man schreiben könnte.«
»Müssen es denn aufregende Dinge sein?« fragte er. »Wollen Sie nicht über die Insel der Hoffnung schreiben?«
»Wenn Daniel es mir erlauben würde, gern. Aber ich fürchte, er wird es nicht erlauben. Die Neugierde würde wohl allzuviele hierhertreiben und der eigentliche Zweck wäre dann verfehlt.«
»Wir werden keine Neugierigen hier aufnehmen. Nur solche, die wahrhaft Hilfe brauchen. Darf ich mir übrigens die Frage gestatten, ob Mr. Delorme tatsächlich zu jenen gehört, die Hilfe brauchen?«
Etwas in seinem Tonfall ließ sie aufhorchen. In der warmen, dunklen Stimme des Arztes klang eine gewisse Aggressivität.
»O doch, er brauchte Ruhe und Entspannung. Ich will nicht sagen,