Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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bewußt geworden sei. Sie entschuldigte sich ausdrücklich für die Form ihres Abschieds, schrieb aber, sie hoffe, so sei es für alle Beteiligten am wenigsten schmerzhaft. Außerdem hatte sie noch darum gebeten, nicht nach ihr zu suchen. Sie gehe weit fort, schrieb sie, und werde erst zurückkehren, wenn die Gemüter sich wieder beruhigt hätten.

      Gerd Markwart hatte recht: Es sah Feli nicht ähnlich, sich so zu verhalten. Sie war eine kluge junge Frau, die bisher nur sehr selten etwas Unüberlegtes getan hatte. Und sie war verantwortungsbewußt, sie ließ Menschen, die sie gern hatte, nicht einfach im Stich. Und selbst wenn es so war, daß sie ihn, Lukas, nicht liebte, so liebte sie doch ihre Eltern. Und sie mußte gewußt haben, was sie ihnen mit diesem Schritt antat.

      Aber andererseits wirkten die Brief keinesfalls so, fand Lukas, als habe sie sie unter Druck geschrieben. Es war ihre Art, sich auszudrücken, ganz ohne Zweifel. Sie hatte am Schluß sogar versucht, einen kleinen Scherz zu machen. Tat das jemand, der gezwungen wurde, einen Brief zu schreiben? Er konnte es sich nicht vorstellen. Was aber steckte dann hinter den Briefen? Ihm fiel keine vernünftige Erklärung ein.

      Marianne Markwart weinte still vor sich hin, aber sie sagte nichts. Auch ihr Mann verstummte jetzt. Er sah elend aus, und Lukas fragte sich unwillkürlich, ob Feli nicht an sein schwaches Herz gedacht hatte. Hatte sie vergessen, daß jegliche Aufregung für ihren Vater Gift war?

      »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Lukas in die Stille hinein. »Es ist ihre Schrift, es ist ihre Sprache – und dennoch habe ich das Gefühl, daß aus diesen Briefen ein Mensch spricht, den ich nicht kenne.«

      »Du bist doch in ihrer Wohnung gewesen«, sagte Marianne Markwart jetzt schluchzend. »Sie muß doch etwas mitgekommen haben, wenn sie geplant hat wegzugehen. Aber du hast gesagt, es sah aus wie immer!«

      »Ja«, erwiderte Lukas überrascht. »So war es auch. Ich habe nicht gezählt, ob ihre Kleidung vollständig war – das hätte ich sowieso nicht gekonnt, weil ich keinen genauen Überblick darüber habe. Aber nichts wirkte so, als hätte sie die Absicht, nicht wiederzukommen. Seid ihr denn nicht auch dort gewesen?«

      Sie schüttelte den Kopf und fing erneut heftig an zu schluchzen. »Wir haben es nicht fertiggebracht«, sagte sie leise. »Du weißt, wie wichtig ihr ihre Wohnung ist, wir wollten dort nicht eindringen. So etwas tut man doch eigentlich nur, wenn… wenn…«

      Das Telefon klingelte, und alle drei fuhren erschrocken zusammen. Gerd Markwart warf seiner Frau einen Blick zu und erhob sich dann. Er kam bald darauf zurück. »Sie hat auch einen Brief an ihre Kollegen geschrieben und sich entschuldigt, daß sie ohne ordentliche Kündigung ihren Arbeitsplatz aufgibt. Dort hat sie private Gründe angegeben, ohne sie näher zu benennen. Es war einer ihrer Kollegen, der wissen wollte, was los ist.«

      »Und was hast du gesagt?«

      »Daß wir auch nicht viel mehr wissen – was sollte ich sonst sagen?« Er blieb in der Tür stehen. »Am besten geben wir zuerst einmal der Polizei Bescheid, daß sie die Fahndung stoppen kann.«

      Daran hatte Lukas noch nicht gedacht. Er stand auf. »Laß uns die Briefe mitnehmen. Vielleicht gibt es da Experten, die feststellen können, ob sie die Briefe unter Zwang geschrieben hat.«

      »Kannst du hierbleiben, Marianne?« fragte Gerd Markwart seine Frau. »Falls… ich meine, es könnte ja sein, daß ein wichtiger Anruf kommt.« Hilflos brach er ab. Er wußte so gut wie die beiden anderen, daß Feli nicht anrufen würde.

      *

      »Selbstverständlich, Frau Markwart«, sagte die Rezeptionistin im King’s Palace freundlich. »Unsere Zimmer sind alle ruhig. Ihres hat einen Blick auf unseren Garten, Sie haben sogar einen Balkon.«

      »Sehr schön«, sagte Felicitas Markwart ohne zu lächeln. »Und noch etwas: Ich möchte hier nicht angerufen werden. Ich möchte überhaupt nicht, daß jemand weiß, wo ich zu finden bin. Läßt sich das machen?«

      »Natürlich, wie Sie wünschen.« Die Rezeptionistin verlor nichts von ihrer gleichbleibenden Freundlichkeit. Sie war Sonderwünsche gewohnt. Diese waren dazu da, erfüllt zu werden, wenn sie sich mit dem Selbstverständnis des Hotels vertrugen. Daß Gäste unerkannt zu bleiben wünschten, kam relativ häufig vor, es gab also keinen Grund, sich darüber zu wundern.

      Die blasse, sehr hübsche junge Frau im eleganten Kostüm nickte zufrieden, nahm ihren Schlüssel in Empfang und machte sich auf den Weg zu den Fahrstühlen. Geschafft, dachte sie. Hier bin ich erst einmal in Sicherheit. Und ich kann mich ausruhen.

      Nachdenklich betrachtete sie gleich darauf in dem völlig verspiegelten Fahrstuhl ihr Gesicht. Dünn und spitz war es geworden, seit sie… nun ja, seit sie unterwegs war. Aber das war ja auch kein Wunder. Abrupt wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab. Kein Selbstmitleid, Feli, schärfte sie sich ein, und vor allem kein Blick zurück!

      Aber das war leichter gesagt als getan. Erinnerungen schienen überall zu lauern, das hatte sie schon in den letzten Tagen festgestellt. Sie konnten genauso durch Musikfetzen ausgelöst werden wie durch einen bestimmten Geruch oder das Gesicht eines Menschen, das einem vertraut vorkam, obwohl man ihn nicht kannte.

      Erinnerungen waren im Augenblick ihre schlimmsten Feinde, und sie wußte noch nicht, wie sie es schaffen sollte, sie zu besiegen.

      *

      Als Adrian an diesem Abend nach Hause kam, fühlte er sich erbärmlich. Zum Glück kam das nicht allzu oft vor, doch heute war einer jener Tage, an denen er an allem zweifelte, was er tat. Doris Willbrandt ging ihm nicht aus dem Kopf, und das Wissen, daß sie es vorgezogen hatte, die Klinik zu verlassen, statt sich den behandelnden Ärzten anzuvertrauen, nagte an ihm. Wir müssen etwas falsch gemacht haben, dachte er, sonst wäre sie geblieben. Und sie muß ein Problem gehabt haben, das wir nicht erkannt haben.

      An seiner Wohnungstür hing ein Zettel, der nur mit Zeichen bedeckt war, nicht mit Wörtern. Seine Nachbarin Carola Senftleben hatte unter anderem ein saftiges Brathähnchen gemalt und einen dampfenden Suppentopf – unwillkürlich lächelte er. Wenn Frau Senftleben nicht gewesen wäre, dann hätte er manche kritische Situation der vergangenen Zeit bedeutend schlechter überstanden…

      Er betrat seine Wohnung, ging unter die Dusche, zog sich Jeans und ein T-Shirt an und klingelte danach an der Nachbarwohnung.

      Frau Senftleben erschien gleich darauf, rief fröhlich: »Na, endlich, ich dachte schon, Sie arbeiten heute auch wieder bis spät in die Nacht!« und verschwand erneut in ihrer Küche. Er folgte ihr, und schon auf dem Weg dorthin spürte er, wie ein Teil seiner Sorgen von ihm abfiel. Diese Wirkung hatte Frau Senftlebens Küche mit ihren wunderbaren Düften fast immer auf ihn.

      Carola Senftleben war eine zierliche grauhaarige ältere Dame mit unschuldigen blauen Augen, die oft genug über ihren scharfen Verstand hinwegtäuschten. Adrian und sie hatten sich schnell miteinander angefreundet, und im Laufe der Zeit hatte Frau Senftleben angefangen, den unverheirateten Arzt ein wenig zu bemuttern – auf eine Weise allerdings, die er sich gern gefallen ließ. Sie bedrängte ihn niemals, und wenn er sagte, er wolle allein sein, dann akzeptierte sie das völlig selbstverständlich.

      Sie war eine leidenschaftliche Köchin und liebte es, in Gesellschaft zu essen. Am Anfang hatte sie noch förmliche Einladungen ausgesprochen, doch dieses Stadium hatten Adrian und sie längst hinter sich. Mittlerweile war es so, daß sie häufig zusammen aßen, und immer war es ganz zwanglos.

      Sie schien im Laufe der Zeit eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt zu haben, wann er hungrig und erschöpft aus der Klinik nach Hause kam, und er ertappte sich gelegentlich dabei, daß er enttäuscht war, wenn Carola Senftleben einmal nicht gekocht hatte. Das kam gar nicht mal so selten vor, denn sie war eine richtige Nachteule und ging öfter aus – mal in die Oper, mal ins Kino oder ein Konzert.

      Adrians Zwillingsschwester Esther beneidete ihren Bruder glühend um diese Nachbarin, was Frau Senftleben natürlich außerordentlich gut gefiel. Zur Belohnung lud sie auch Esther gelegentlich zum Essen ein und ließ sich erzählen, daß es in der Charité, wo Esther als Kinderärztin arbeitete, auch keine humaneren Arbeitszeiten gab als in der Kurfürsten-Klinik.

      »Brathähnchen?«