Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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und so beobachtete er tapfer, was der Arzt mit seiner Hand anstellte. Er würde es später in der Schule als Heldentat schildern – wie er, ohne zu weinen, die Behandlung des Arztes ertragen hatte. Langsam schmolz die köstliche Schokolade in seinem Mund, und auf einmal war es im Krankenhaus gar nicht mehr so schlimm.

      »Vielen, vielen Dank, Herr Doktor!« sagte die Mutter, als sie sich von Adrian verabschiedete. »Ich weiß gar nicht, wie Sie das gemacht haben! Normalerweise hat er panische Angst vor Spritzen.«

      »Ab jetzt vielleicht nicht mehr«, erwiderte Adrian lächelnd und winkte Patrick nach, der seine verbundene Hand stolz wie eine Jagdtrophäe vor sich hertrug.

      Adrian streckte seine müden Glieder und beschloß, ein Glas Wasser zu trinken. Seine Kehle fühlte sich trocken an, und er hatte beschlossen, seinen Kaffeekonsum einzuschränken. Also Wasser – obwohl die Aussicht, wie er sich eingestand, nicht besonders verlockend war. Während der Gedanke an eine Tasse duftenden Kaffees…

      »Kann ich dich einen Augenblick sprechen?« fragte eine seltsam gepreßt klingende Stimme hinter ihm.

      Er drehte sich um und sagte erstaunt: »Julia! Du klingst, als sei etwas Schreckliches passiert.«

      »Es ist etwas Schreckliches passiert«, erwiderte Julia mit unbewegtem Gesicht, und nun wandte er ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. »Unsere Patientin Doris Willbrandt ist verschwunden.«

      Er verstand die Tragweite dessen, was sie sagte, nicht sofort. »Was heißt das: Sie ist verschwunden? Was willst du damit sagen?«

      »Sie hat das Krankenhaus verlassen, Adrian. Ihre Sachen sind weg, und sie ist auch weg.«

      Er schluckte, dann sagte er müde: »Ich habe vorhin bei ihrer Versicherung angerufen, die kannten sie überhaupt nicht. Ihre Versicherungsnummer war falsch, und die Verwaltung hat herausgefunden, daß es in Hamburg gar keine Doris Willbrandt gibt.«

      »Was?« fragte Julia entgeistert. »Davon wußte ich ja überhaupt nichts!«

      »Herr Laufenberg war höchstpersönlich hier, um mir das mitzuteilen und mich aufzufordern, dieser Information gefälligst nachzugehen. Er deutete an, daß Frau Willbrandt insgesamt falsche Angaben gemacht haben könnte.«

      »Damit hat er ja offenbar recht gehabt«, stellte Julia fest. Sie beruhigte sich allmählich. »Es ging Frau Willbrandt schon wieder besser, von daher müssen wir uns keine Sorgen machen. Nur das CT hätte ich gerne noch gemacht, um sicherzugehen, daß wirklich alles in Ordnung war.«

      »Aber warum?« murmelte Adrian. »Ich verstehe das nicht, Julia. Warum lügt sie uns an und verschwindet dann auf einmal? Dafür muß es doch einen Grund geben!«

      Julia hatte sich zwar zunächst sehr aufgeregt, aber schließlich nützte das niemandem, und so kehrte sie zu ihrer üblichen Gelassenheit zurück. »Sicher«, sagte sie nüchtern. »Sie hat ganz bestimmt einen Grund gehabt, sich so zu verhalten, wie sie es getan hat, aber wir werden ihn nie erfahren. Freiwillig kommt sie bestimmt nicht zurück. Das einzige, was wir jetzt noch tun müssen, ist, die Verwaltung zu informieren. Soll ich das übelnehmen?«

      »Du bist heute schon der zweite Mensch, der mir anbietet, etwas Unangenehmes für mich zu übernehmen. Vielen Dank, Julia, aber wenn ich mich sehr anstrenge, dann schaffe ich es sicher, mit Herrn Direktor Laufenberg ein Gespräch zu führen, bei dem wir nicht sofort aufeinander losgehen.«

      »Um so besser«, versetzte Julia lächelnd. »Aber bevor du das tust, haben wir noch eine Menge Arbeit. Das Wartezimmer ist voll!«

      Sie sprachen nicht mehr über Doris Willbrandt, aber Adrian schaffte es nicht, die junge Frau völlig aus seinen Gedanken zu verbannen. Immer wieder fragte er sich, was wohl der Grund für ihr Handeln gewesen war. Doch so sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, eine auch nur halbwegs vernünftige Erklärung wollte ihm nicht einfallen.

      *

      Feli war als vermißt gemeldet worden, und die Polizei hatte eine Fahndung eingeleitet. Felis Eltern hofften noch immer, daß ihre Tochter plötzlich wieder auftauchen werde, doch ihre Verzweiflung wuchs. Je länger Feli verschwunden blieb, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß sie unvermutet zurückkehrte.

      Auch Lukas Bromberger verlor allmählich das letzte Fünkchen Hoffnung auf eine ganz einfache Erklärung für das rätselhafte Verschwinden seiner Verlobten. Er war nervös und fahrig, konnte nachts nicht schlafen und fragte sich, wie er unter diesen Umständen imstande sein sollte, seiner Arbeit nachzugehen.

      Müde stolperte der an diesem Morgen ins Bad, und erst nach einer eiskalten Dusche fühlte er sich ein bißchen besser. Er beschloß, richtig zu frühstücken und ein wenig später in die Agentur zu gehen. Er würde seine Kräfte noch brauchen in den nächsten Tagen. Er mußte sich vernünftig ernähren und versuchen, genug Schlaf zu bekommen. Wie er letzteres anstellen sollte, war ihm allerdings völlig unklar, aber seine Ernährung konnte er zumindest beeinflussen.

      Also kaufte er sich frische Brötchen, bereitete sich außerdem ein Müsli zu und kochte sich Kräutertee statt Kaffee. Er zwang sich, langsam zu essen, und versuchte dabei nachzudenken. Flüchtig überflog er die Zeitung, aber er konnte sich nicht auf die Weltpolitik konzentrieren – jetzt, wo seine eigene kleine Welt gerade drohte, in Trümmer zu fallen.

      Als er den Briefträger an den Kästen klappern hörte, stand er auf, um nachzusehen, ob etwas für ihn dabei war. In der Tat hatte er einen ganzen Stapel Post bekommen, den er durchsah, als er wieder am Frühstückstisch saß. Es schienen wieder einmal nur Rechnungen zu sein, dachte er, doch dann stieß er auf einen Brief, der anders aussah als die anderen – und im nächsten Augenblick erkannte er die runden Schriftzüge. Es war ein Brief von Feli. Er fühlte einen scharfen Stich in der Herzgegend, und dann fing sein Puls an zu rasen.

      Fassungslos starrte er auf den Brief, sah sich den Poststempel an und riß den Umschlag dann hastig auf. Seine Augen überflogen den eng beschriebenen Bogen, und sein Gesichtsausdruck wurde immer ungläubiger. Mehrfach schüttelte er den Kopf, seine Lippen bewegten sich lautlos. Als er zuende gelesen hatte, ließ er den Brief sinken und starrte eine Weile ins Leere. Dann fing er erneut an zu lesen, als bestünde die Möglichkeit, daß er sich beim ersten Mal nur getäuscht habe.

      Schließlich stand er auf, den Brief noch immer in der Hand haltend, und ging zum Fenster. Lange sah er nach draußen auf die Straße, ohne etwas wahrzunehmen. Wenn es stimmte, was sie geschrieben hatte, dann lag seine kleine Welt bereits in Trümmern – allerdings anders, als er bisher gedacht hatte.

      *

      Dr. Adrian Winter klopfte nur kurz, während er noch einmal tief durchatmete. Es war nicht gerade angenehm, was ihm jetzt bevorstand, aber er hatte schon schlimmere Situationen durchgestanden. Von drinnen hörte er: »Ja, bitte?« und öffnete die Tür.

      »Kann ich Sie kurz sprechen, Herr Laufenberg?« Er zwang sich, seine Stimme völlig neutral klingen zu lassen.

      Wenn der Verwaltungsdirektor über diesen Besuch erstaunt war, so ließ er sich jedenfalls nichts davon anmerken. »Sicher, Herr Dr. Winter, kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.« Seine Stimme war freundlich, nichts erinnerte daran, daß es vor kurzem in der Notaufnahme zu einem unfreundlichen Wortwechsel zwischen ihnen gekommen war.

      Adrian setzte sich und beschloß, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Was nützten alle Vorreden, wenn er schließlich doch zu unfreundlichen Kern kommen mußte? »Sie haben leider recht mit Ihrer Vermutung, daß die Patientin Doris Willbrandt uns gegenüber falsche Angaben gemacht hat.«

      Der Verwaltungsdirektor war jetzt sehr aufmerksam. »Ihre Versicherungsnummer war falsch?«

      Er wirkte nicht triumphierend, weil er recht behalten hatte, und Adrian rechnete ihm das insgeheim hoch an. »Die war falsch – und die Versicherung, die sie uns genannt hat, kannte niemanden mit dem Namen Doris Willbrandt.« Nach kurzer Pause setzte er hinzu: »Tut mir leid.«

      Thomas Laufenberg schien es gar nicht zu hören. »Der Name ist wahrscheinlich auch falsch«, murmelte er vor sich hin.

      Auf diese Idee war Adrian noch gar nicht gekommen. »Glauben