doch nicht so, als hätte sie keine Wohnung, in die sie gehen könnte. Warum also war sie unterkühlt, dehydriert und hatte nichts im Magen?«
»Ich kann es dir auch nicht sagen«, antwortete seine Kollegin. »Kreislaufkollaps, etwas anderes wüßte ich nicht. Komm, wir fragen sie selbst.«
Wenige Augenblicke später standen sie neben der jungen Frau, die ihnen entgegensah, aber durch nichts zu erkennen gab, daß sie sich erinnern konnte, wer sie waren.
»Wissen Sie, wo Sie sind?« fragte Julia behutsam.
»Nein«, antwortete die Patientin, und Adrian atmete auf. Immerhin hatte sie geantwortet, das war schon mal ein Fortschritt.
»In der Kurfürsten-Klinik in Berlin«, sagte er. »Sie sind hier in der Notaufnahme. Können Sie sich erinnern, wie Sie hierher gekommen sind?«
Wieder antwortete sie mit: »Nein.« Ihre großen blauen Augen waren jetzt aufmerksam auf die beiden Ärzte gerichtet.
»Sie sind auf einer Parkbank gefunden worden«, fuhr Julia fort. »Sie waren bewußtlos, und der ältere Herr, der Sie gefunden hat, hat sich Sorgen um Sie gemacht und einen Rettungswagen gerufen.« Sie hatte absichtlich nichts von dem Verdacht auf Drogenmißbrauch gesagt. Adrian war froh darüber.
»Bitte, sagen Sie uns, wie Sie heißen«, sagte er. »Ich bin Dr. Adrian Winter und leite hier die Notaufnahme. Dies ist meine Kollegin Dr. Julia Martensen, sie ist Internistin. Wir werden Sie auf die Innere verlegen, weil Sie stark unterkühlt waren und wir sichergehen wollen, daß Sie sich keine Lungenentzündung geholt haben.«
Er bekam keine Antwort.
»Wie heißen Sie?« wiederholte Julia die Frage.
»Doris… Doris Willbrandt.« Sie stieß die Worte hervor, als bereiteten sie ihr körperliche Schmerzen.
»Wen sollen wir benachrichtigen, Frau Willbrandt?« fragte Adrian.
»Benachrichtigen?« fragte sie verwirrt.
»Ja, daß Sie hier sind«, erklärte er geduldig. »Ihre Eltern? Ihren Mann? Freunde? Sie werden doch sicher jemandem mitteilen wollen, daß Sie jetzt in einer Klinik sind. Außerdem macht man sich bestimmt bereits Sorgen um Sie.«
Es war, als lege sich ein Schatten über ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Julia Martensen und Adrian Winter warteten geduldig. Schließlich sagte Doris Willbrandt: »Ich wohne in Hamburg, Sie müssen niemanden benachrichtigen. Das würde nur für Unruhe sorgen. So schlecht geht es mir ja nicht. Ich wollte mir ein paar Tage Berlin ansehen und dann zurückfahren. Kein Grund, meine Familie zu beunruhigen.«
»Wie Sie wollen«, meinte Adrian nach kurzem Zögern. Kam es ihm nur so vor – oder reagierte sie tatsächlich erleichtert, als er das sagte?
»Gut«, sagte Julia energisch, »dann schlage ich vor, wir verlegen Frau Willbrandt auf die Innere, und danach sehen wir weiter. Allerdings müssen wir noch herausfinden, warum Sie bewußtlos geworden sind. Das können wir uns nämlich nach wie vor nicht erklären.«
Diesmal war es ganz eindeutig, daß die Patientin erschrak. Mit großen Augen fragte sie: »Was meinen Sie damit?«
»Nun, ein gesunder Mensch wird nicht einfach bewußtlos, wenn er auf einer Parkbank sitzt oder liegt«, erklärte Julia freundlich. »Es muß einen Grund dafür geben, und den sollten wir herausfinden, bevor wir Sie wieder entlassen, Frau Willbrandt.«
Die junge Frau preßte ganz fest die Lippen zusammen, dann fragte sie: »Und wie wollen Sie das herausfinden?«
»Wir werden ein CT machen – eine Computertomographie also. Das tut nicht weh. Vielleicht gibt es uns Aufschluß über das, was passiert ist.«
»Das möchte ich nicht«, erklärte die Patientin. »Dazu wird man doch in so eine Röhre geschoben, nicht?«
Beide Ärzte nickten.
»Ich habe Platzangst. Das will ich nicht!« wiederholte Doris Willbrand, diesmal mit allen Anzeichen von Panik in der Stimme.
»Beruhigen Sie sich bitte«, sagte Adrian Winter ruhig. »Wir werden Sie zu nichts zwingen, Frau Willbrandt. Wir dachten nur, daß wir Ihnen so vielleicht am besten helfen können.«
»Ich bin spätestens morgen wieder fit«, erklärte die junge Frau. »Ich war hungrig und müde, da hat mein Kreislauf schlapp gemacht – das ist alles. Lassen Sie mich nur ein bißchen schlafen und essen, dann sind Sie mich auch schon wieder los.«
»So eilig haben wir es gar nicht, Sie loszuwerden«, erklärte Adrian mit einem kleinen Lächeln. »Vor allem wollen wir, daß Sie wieder völlig gesund sind und nicht mehr an rätselhaften Ohnmachten leiden.«
Sie preßte die Lippen fest zusammen, erwiderte aber nichts mehr.
Julia und Adrian wechselten einen schnellen Blick, dann sagte Julia: »Ich bringe Sie jetzt zunächst einmal auf die Innere, Frau Willbrandt. Alles andere sehen wir später.«
Mit Adrians Hilfe schob sie die Liege aus der Kabine und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Adrians nachdenklicher Blick folgte den beiden. Irgend etwas stimmte hier nicht. Aber was?
*
Thomas Laufenberg, der neue Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, sah seine Mitarbeiterin Sabine Meyer fragend an. »Was soll das heißen?« erkundigte er sich stirnrunzelnd. Er war ein gutaussehender Mann von dreiundvierzig Jahren, mit braunen Haaren, die sich an den Schläfen bereits silbrig färbten. Ihm gefiel das nicht besonders, aber Frauen fanden es in der Regel äußerst interessant. Davon wußte er allerdings nichts, denn das hatte ihm noch keine gesagt.
Die junge Frau, die jetzt vor ihm stand, hatte noch nicht viel Berufserfahrung, und sie hatte außerdem Angst vor Thomas Laufenberg. Es gab dafür zwar keinen Grund, denn er war bisher immer freundlich zu ihr gewesen, aber sie fürchtete sich trotzdem. Er war immerhin ein »hohes Tier« an diese Krankenhaus, und sie hatte große Angst, schrecklich zu versagen und dann ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Sabine Meyer war eigentlich klug, aber die Angst zu versagen blockierte gelegentlich ihr Gehirn, was ein großer Jammer war. Thomas Laufenberg selbst wäre nie auf die Idee gekommen, daß sie Angst vor ihm hatte – er fragte sich deshalb manchmal, ob er sich vielleicht für die falsche Mitarbeiterin entschieden hatte. Aber sie hatte bei allen Tests hervorragend abgeschnitten…
Jetzt strich sie sich die schulterlangen braunen Haare aus dem Gesicht und sagte mit einer Stimme, die kaum wahrnehmbar zitterte: »Die Patientin wurde von der Notaufnahme in die Innere verlegt – sie war unterkühlt, und die Ärzte befürchteten, sie hätte sich vielleicht eine Lungenentzündung zugezogen.«
»Na, und?« fragte der Direktor, der allmählich ungeduldig wurde. »Das ist doch völlig in Ordnung, Frau Meyer. Ich kann kein Problem erkennen.«
Sabine Meyers Stimme zitterte heftiger, aber sie sprach tapfer weiter. »Wir haben von der Frau keine Adresse, keine Krankenversicherungsnummer, nichts…«
»Offenbar weiß sie die Antwort nicht – oder sie tut vielleicht auch nur so. Jedenfalls hat sie jetzt schon zweimal gesagt, daß sie sich an nichts erinnern kann. Oder sie hat andere Ausflüchte vorgebracht. Es war wohl schon schwierig, ihren Namen aus ihr herauszuholen, und deshalb weiß hier niemand etwas über sie, obwohl sie schon seit gestern vormittag hier ist. Und sie ist bei Bewußtsein, daran liegt es also nicht.«
Allmählich fing Thomas Laufenberg an, sich für diesen Fall zu interessieren. Es war zwar eigentlich nicht seine Aufgabe, sich um solche Einzelfälle zu kümmern – aber wenn er es nicht tat, dann tat es vermutlich niemand. Und er mußte es schaffen, dieses Krankenhaus neu und besser zu organisieren, sonst drohte der Kurfürsten-Klinik, wie anderen Häusern auch, Bettenabbau und vielleicht sogar noch schlimmeres.
»Wie heißt die Patientin?« fragte er knapp.
»Doris Willbrandt«, antwortete Sabine Meyer jetzt mit fester Stimme wie aus der Pistole geschossen. »Aber sie ist nicht aus Berlin, sie ist aus Hamburg. Sie hat hier nur einen Kurzurlaub gemacht.«