Steve de Shazer

Mehr als ein Wunder


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Schule von Milwaukee, der sich zu den Grundlagen der Lösungsfokussierung über Steves Kritik an dem von uns hochgeachteten Gregory Bateson, in dem er »just a muddled thinker« sah, sehr im Gegensatz zu seiner außerordentlichen Hochachtung für John Weakland, schließlich seit 1989 mehr und mehr auf Wittgenstein richtete. Es war ein großes Geschenk, im Dialog mit Steve zu erleben, wie bei ihm Philosophie und (lösungsfokussierte) Praxis nicht etwa nur allmählich verschmolzen, sondern sich in gewissem Sinne als ›immer schon eines‹ herausstellten.

       Wittgensteins philosophische Therapie

      Ein wesentlicher Zug der Philosophie Wittgensteins besteht in der Idee, viele menschliche Probleme als durch eine Art schlechte Philosophie entstanden anzusehen, entstanden über die »Verhexung durch die Sprache«. Auf dieser Sicht beruht dann auch die Umwendung, die Aufgabe einer guten Philosophie, einer »philosophischen Therapie«, darin zu sehen, den Menschen aus dieser Verhexung zu befreien, indem die Irrtümer durch Fragen aufgehoben werden.

      Doch anders als im sokratischen Dialog gebärdet sich Wittgenstein nicht als der Wissende, der einen anderen über etwas, das er im Vorhinein weiß, zu belehren vorhat, sondern lässt uns über ein Netz von Fragen selber ins dialogische Denken kommen. Wittgenstein ist hier ständig bereit, seine eigenen Fragen und Erwägungen durch andere in Frage zu stellen, und diese durch wieder andere. Seltsamerweise entstehen dabei Einsichten – aber eben kein fixes Theoriegebäude. Und könnte das gerade gesagte nicht schon eine Schilderung von Steve im lösungsfokussierten Dialog gewesen sein?

      Wittgenstein sieht seine Philosophie als eine Art philosophischer Therapie zur Aufhebung oft leidvoller und auf jeden Fall hinderlicher sprachlicher Verstrickungen und Denkirrtümer an – und so ähnlich lässt sich auch Steves Verständnis vom Wesen des lösungsfokussierten Interviews sehen. Hier kann die Rolle der Logik als kunstfertiges Mittel zur Aufhebung menschlichen Leidens erkannt werden, ganz wie das in der buddhistischen Tradition gesehen wurde. Die Rolle der Unterschiede verknüpfte zugleich Steves Denken mit Spencer-Browns Unterscheidungsbegriff, doch war Wittgenstein für ihn viel tiefer und umfassender.

      Solche wittgensteinschen Wendungen, aufgefasst als kunstfertige Mittel im Rahmen des Therapiegesprächs, zeigen sich unter anderem in der Auflösung von verdichteten Vorstellungen über innere Zustände und Gefühle und in der Entwicklung neuer hilfreicher Handlungsgewohnheiten bei den Klienten. Gefühle sind für Wittgenstein wie für Steve keine inneren Dinge; es sind problematische und irrige Denkgewohnheiten, die uns zu dieser Sicht immer wieder verleitet haben.

       Irreduzibilität des Regelfolgens bei Wittgenstein

      Der antitheoretische Zug Wittgensteins zeigt sich auch in seiner Ablehnung der Idee, dass das »einer Regel folgen« zerlegt werden könne in die Regel2 und das »ihr folgen«. Aus der Sicht der Philosophischen Untersuchungen, Wittgensteins berühmtestem Spätwerk, bildet ein Regelfolgen eine Einheit, aus der im Allgemeinen keine Regel als eigenständiges »Objekt« der Betrachtung herausgelöst werden kann. Was das mit Therapie und Methodik zu tun hat? Nun, versuchen Sie einmal eine gängige therapeutische Theorie ohne Bezugnahme auf Regeln zu formulieren!

      Problematisches Verhalten von Menschen ist nun natürlich ebenso wie das, was sie nach einem Wunder täten, jeweils eine Form des Regelfolgens. Wenn in modernen Psychotherapieformen von so genannten Verhaltensmustern und Glaubenssätzen die Rede ist, sind dies aus Wittgenstein’scher ebenso wie aus lösungsfokussierter Sicht irreführende Redeweisen, da ja »die« Regel im Regelfolgen letztlich nicht anzutreffen ist. Lösungsfokussierung ist also auch in dem Verzicht auf die Generalisierung durch Regeln zu sehen, und damit im Verzicht auf innere Dynamiken, Verhaltensmuster, Dispositionen, …

      Aus einer Lösung, die sich in einem Fall als wirksam erweist, wird im lösungsfokussierten Ansatz keine neue Regel abgeleitet3. Jede Beschreibung von Gefühlsqualitäten und Eigenschaften innerer Zustände der KlientInnen entfällt hier.

      Die Systematik des lösungsfokussierten Ansatzes ist eine Systematik der Methode, nicht der Inhalte. Sie lässt sich auf der Ebene der Syntax, nicht aber auf der Ebene der Semantik verstehen.

       Theorie, Praxis und Lernbarkeit

      Einerseits ist der lösungsfokussierte Ansatz zweifellos eher eine in Jahrzehnten der Praxis entwickelte pragmatische Methodologie als ein Theoriegebäude im klassischen Sinne; doch andererseits sind grammatische Einsichten, Einsichten über die Art, in der die Struktur unserer Sprache Einfluss auf die in der Sprache ausgedrückten Fragen und Probleme nimmt, ein Zug, der über pure Pragmatik weit hinausreicht.

      Steve de Shazer bot denen, die ihn kennen lernen und bei ihm lernen durften, ganz nebenbei eine Lösung zum Umgang mit der alten Frage über das Verhältnis von Theorie und Praxis an; eine Lösung, die wieder sehr nahe bei Wittgensteins Haltung zu dieser Frage liegt. Für Steve zeigte sich das Muster der Methode gerade in der brillanten Praxis seiner Frau Insoo Kim Berg, die auf so vielfältige Art hier in diesem Buch vertreten ist, sowohl als Therapeutin im Falltranskript als auch als Gesprächspartnerin bei den Reflexionen des Teams über die Fälle.

      Steve de Shazer hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, grundlegende Einsichten aus der Beobachtung von Praxis zu gewinnen, und sich zugleich bei dem Klienten auf das ganz Konkrete eines Falles zu beschränken, ohne die KlientInnen oder die von ihm Lernenden mit inhaltlichen Thesen über die Regeln des ursprünglich gestörten Verhaltens zu belasten. Zugleich aber hatte er eine reflexive Aufmerksamkeit, eine Art methodisch-theoretischen Witness State, durch den er das, was andere in der Praxis unbewusst verkörperten, zum Vorschein brachte, beschreibbar machte und damit lernbar.

      Denn ohne Bewusstsein für solche nicht mehr inhaltlich gebundenen Invarianzen höherer Ordnung ist es schwer, etwas zu vermitteln und lernbar zu machen. Der Beitrag von Steve de Shazer dazu kann aus meiner Sicht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. So wird z. B. klar, dass Vorsicht bei jeder Verdinglichung von Gefühlen geboten ist, wo Gefühle als eine Art innere Ursache von Leiden gesehen werden: Dies kann schon die Form der Konstruktion eines Problems haben.

       Nichtwissen

      Steve de Shazers vielleicht am weitesten berühmt gewordene Form des Lobs auf das Nichtwissen bestand wohl in seiner Empfehlung, wenn einem eine Interpretation einfalle, möge man doch ein Aspirin nehmen, sich in die nächste Ecke hocken und warten, bis der Anfall vorbei ist. Hier wird Nichtwissen von Seiten der TherapeutInnen sogar als ein wichtiger Teil ihrer Professionalität angesehen, wären doch Interpretationen so etwas wie Einschränkungen der Freiheit der Klientinnen, unseren Erwartungen zuwiderlaufend zu antworten.

      Wie Steve und Insoo uns immer wieder zeigten, stand für sie beide vor der Antwort nie fest, was die Bedeutung dessen gewesen sei, das sie gefragt hatten. Und auch aus diesem Grunde war ja aus Steves und Insoos Sicht die Wunderfrage immer wieder eine neue Frage.

      Einen weiteren überraschenden Zug des lösungsfokussierten Ansatzes, der auch von erfahrenen Praktikern manchmal unterschätzt wird, ist, wie sehr lösungsfokussierte Frage eigentlich ausschließlich der Generierung relevanter Unterschiede bei den KlientInnen dienen, nicht aber der inhaltlichen Information der TherapeutInnen.4

       Wer spricht?

      Ein ungewöhnlicher Zug, aus meiner Sicht eine geradezu geniale didaktische Idee der AutorInnen dieses Buches ist die Idee, Gespräche im Team ohne klare Angaben, wer spricht und wer antwortet, darzustellen. Das Vorgehen kam mir erst irgendwie bekannt, aber auch irritierend vor, aber nach etwas genauerer Lektüre war ich gerade von diesem Vorgehen begeistert: Die Autoren verwenden so ein literarisches Stilmittel, das von Wittgenstein in die Philosophie eingeführt wurde: Dialoge mit mehrdeutigen Sprecherzuordnungen, die den Leser zu immer wieder neuen inneren Dialogen mit neuen Rollenverteilungen führen.5 Hier spiegeln die AutorInnen den Aufbau der Texte in den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins und lassen zugleich die