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Große Werke der Literatur XV


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1 erledigt.

      Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Ich von Walden zwar autobiographisch grundiert ist – hier berichtet einer mit dem auf persönlicher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Authentizität – , dass es aber zugleich eine persona ist, eine Maske, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird, hinter der der Autor sich ebenso verbirgt wie er sich durch sie enthüllt. Das Insistieren auf dem persönlichen Erfahrungsgrund verbindet sich mit einem raffinierten, alles andere als pubertären Spiel, mit einer sophistication, die den Erzählstrategien eines Jonathan Swift oder eines Nathaniel Hawthorne (dem Kermode in The Classic fast ein ganzes Kapitel widmet) in nichts nachsteht.

      Einmal als Spiel erkannt, erweist sich die Ich-persona als höchst wirkungsvolles Instrument des Selbstausdrucks ebenso wie der sozialkritischen Analyse. Denn genau das leistet Walden, für den Leser am leichtesten nachvollziehbar im ersten und mit großem Abstand längsten Kapitel mit der Überschrift „Economy“. Hier dient das Ich in erster Linie der Polemik; es wird in Stellung gebracht gegen eine Gesellschaft, deren Ideologie – plakativ ausgedrückt – Glück verspricht und Frustration liefert. „The mass of men lead lives of quiet desperation“ (8) – der Satz aus „Economy“ gehört mit Recht zu den meistzitierten des Buches, fasst er doch eine Zeitdiagnose zusammen, die an Radikalität und Schärfe ihresgleichen sucht. Drei Generationen nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, in deren Präambel neben dem Recht auf Leben und Freiheit die Verwirklichung des Glücks – ‚the pursuit of happiness‘ – zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wird, entwirft Thoreau das Panorama einer Gesellschaft, die systematisch die Ideale verrät, unter denen sie angetreten ist. So ist insbesondere der freie Bauer, die Idealfigur der von Thomas Jefferson anvisierten Republik, alles andere als frei; Tag für Tag rackert er sich ab, um die auf seiner Farm lastenden Hypothekenzinsen zu bedienen. Der hochgepriesene technische Fortschritt – in den 1840er Jahren besonders markant sichtbar in der gerade in Concord angekommenen Eisenbahn sowie an den Telegraphendrähten – geht nicht nur auf Kosten der Arbeiter, vor allem irischer Einwanderer, er entfremdet uns von der Natur als Erfahrungsraum und untergräbt damit auch die Zivilisation, als deren Triumph er gefeiert wird.

      Witzig und unterhaltsam reiht Thoreau Beispiel an Beispiel, um aufzuzeigen, wie die ökonomischen Mechanismen, die doch der Theorie nach der Befriedigung unser Grundbedürfnisse dienen – Arbeit und Produktion, Privatbesitz, Arbeitsteilung, Standardisierung, Wettbewerb und Markt – nicht nur diese Bedürfnisse nicht wirklich befriedigen im Sinne eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Zur gleichen Zeit wie Karl Marx liefert Thoreau eine umfassende Darstellung der Entfremdung, indem er die zahllosen sekundären Bedürfnisse entlarvt, die unser Leben beherrschen: das Diktat der Mode und der Statussymbole, vor allem aber das – schon von Swift in Gulliver’s Travels mit ätzender Satire gegeißelte – Verlangen nach Luxus, das seinerseits kollektive Verbrechen wie die Sklaverei und den kolonialen Expansionismus des Mexican War antreibt. Mit unseren natürlichen Bedürfnissen haben diese Fehlentwicklungen nichts zu tun, aber dank Adam Smith, David Ricardo und Jean-Baptiste Say (von Thoreau in Walden genannte Nationalökonomen) besitzen sie geradezu axiomatisches Prestige.

      Angesichts dieser desaströsen Entwicklungen geriert sich das Thoreausche Ich bald amüsiert, bald empört; bald höhnisch, bald empathisch-mitleidig, stets aber witzig und immer wieder auch mit einem Schuss Selbstironie, der allein ausreichen müsste, das Verdikt pubertärer Nabelschau auszuräumen. Thoreau versteht sein eigenes Experiment als Versuch einer alternativen Ökonomik; die einfache selbstgebaute Hütte, relative Bedürfnislosigkeit in Kleidung und Nahrung, ein selbst angelegtes Bohnenfeld – all das befreit ihn weitgehend vom Leistungsdruck, unter dem seine Nachbarn in Concord leiden. Zugleich ‚verkauft‘ er (im Unterschied zum Benjamin Franklin der Autobiography) sein Beispiel nicht als Erfolgsrezept, er warnt ausdrücklich davor, es ihm nachzutun, und wenn er sich mit den Farmern von Concord vergleicht und meint, er sei nicht nur freier, sondern auch im materiellen Sinne erfolgreicher gewesen als sie, so macht er sich auch immer wieder über sich selbst lustig.

      Dabei hilft ihm seine stilistische Brillanz, greifbar etwa an den zahllosen Wortspielen, die das Buch gelegentlich zum Albtraum für Übersetzer machen können, sind Wortspiele doch selten eins-zu-eins übersetzbar. Eine Ausnahme gehört zu meinen Lieblingspassagen. Dahinter steht die seit John Locke in England und später auch in den USA als grundlegend akzeptierte Auffassung, dass Landbesitz in dem Maße moralisch legitim sei, wie der Bauer den Boden bearbeite, ihm (buchstäblich etwa in Form seines Schweißes) etwas von sich selbst beimische und damit seinen Wert steigere. So wird die Bearbeitung des Bodens zur Quelle des Wohlstands ebenso wie zur Basis bürgerlicher Tugenden. Produktiver Landbesitz schafft freie, verantwortungsvolle Bürger, das Rückgrat der Republik als Staatsform. Hier liegt die theoretische Legitimation von Jeffersons bereits angesprochener Vision der USA als einer Republik freier Bauern.

      Thoreaus juristischer Status während seines Walden-Aufenthalts war nun aber nicht der des Landbesitzers; er hatte die Hütte auf Emersons Land gebaut, war also ein Squatter, der das Land nutzen, aber nicht sein Eigen nennen und entsprechend darüber verfügen durfte. Darauf ebenso wie auf das Locke-Jeffersonsche Theorem des Besitzindividualismus anspielend bemerkt Thoreau: „I enhanced the value of the land by squatting on it“ (64). Sein Beitrag zur Verbesserung des Bodens beschränkte sich darauf, ihn mit seinen Exkrementen zu düngen. „Squat“ heißt ja zunächst „sich hinhocken“. Wir treffen hier auf eines von unzähligen Wortspielen in Walden, und auf den seltenen Glücksfall, dass ein englisches Wortspiel problemlos ins Deutsche übertragen werden kann: Statt als Farmer profiliert Thoreau sich als Squatter, der buchstäblich und metaphorisch aufs Land ‚scheißt‘ – ein glänzendes Beispiel für die burleske Seite des Buches. Die Strategie der Burleske besteht ja darin, etwas mehr oder weniger Triviales ins Heroische hochzustilisieren, und dann diese Blase platzen zu lassen. Eine drastischere Demontage des Heroischen als sie hier, am Beispiel des Farmer-Mythos vorgeführt wird, ist schwer vorstellbar; burlesk ist sie insofern, als Thoreau an dessen Anspruch, den Boden zu ‚verbessern‘, festhält und damit in Konkurrenz zum Farmer tritt, sich also seinerseits zugleich heroisch aufplustert und durch den Kakao zieht.

      Die burlesken Züge zeugen von einer Souveränität, die das Gegenteil von pubertärem Narzissmus signalisiert. Für sich schon ein Ausweis von Reife, dient sie überdies einem Anliegen, das ernster und gewichtiger kaum sein könnte. Schließlich ist Ökonomie, wie Thoreau vermerkt, ein Thema, über das man sich lustig machen kann, aber damit ist es nicht erledigt: „Economy is a subject which admits of being treated with levity, but it cannot so be disposed of“ (29). Denn die von Jefferson in die Declaration of Independence eingefügte Formel von ‚the pursuit of happiness‘ läuft für Thoreau im Zeichen zeitgenössischen Wirtschaftens auf den Tod der Seele hinaus. Vom ersten Spatenstich an gräbt sich der Farmer sein Grab, das Haus wird ihm schon zu Lebzeiten zum Sarg und Mausoleum. Eine Antwort auf die Welt der Wirtschaft besteht in Askese und Verweigerung. Dem Gewinnstreben setzt Thoreau die Forderung nach freiwilliger Armut und drastischer Einschränkung der Bedürfnisse entgegen: „a man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone“ (82). Das erste Kapitel von Walden befasst sich mit Ökonomie, um sie hinter sich zu lassen. Die andere Antwort auf eine dem business verfallene Welt findet Thoreau in der Natur.

      In „Qu’est-ce qu’un classique?“ (1850), einer seiner Causeries du lundi, erörtert Sainte-Beuve das für den Klassiker charakteristische und auf den ersten Blick paradox erscheinende Ineinander revolutionärer, gar ikonoklastischer Züge einerseits, konservativer Momente andererseits. Revolutionär erscheint der Klassiker insofern, als er uns aus vertrauten Vorstellungen reißt, in denen wir es uns bequem gemacht haben. Zugleich ist der Klassiker rückwärtsgewandt, es geht ihm darum, Gewissheiten freizulegen, die verschüttet waren. Daher seine hohe Akzeptanz und Langlebigkeit: Er verhilft uns nicht zu absolut neuen Einsichten, vielmehr erinnert er an etwas, das wir immer schon wussten. So ist er letztlich restaurativ in dem positiven Sinne, dass er ein ge- oder zerstörtes Gleichgewicht, eine verzerrte Harmonie und Schönheit wiederherstellt. Uns werden die Augen geöffnet für etwas, das immer schon da war und bleibende Gültigkeit beanspruchen darf:

      Un tel classique a pu être un moment révolutionnaire, il a pu le paraître du